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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen
Autoren: Michael Harvey
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klein.
    »Es könnte noch eine andere Stelle geben.« Ich folgte der Biegung des Flusses. Nach etwa hundert Metern wendete ich mich vom Wasser ab, kletterte einen Abhang aus bröckelndem Granit zur Hälfte hoch und dachte nach. Eine Brise kitzelte die Baumwipfel und leckte am Saum des Flusses.
    »Hat er sich den Jungen auf der Straße geschnappt?« Mein Flüstern durchschnitt die Stille.
    »So die Theorie«, sagte Havens.
    »Trotzdem wird er einen Ort gebraucht haben.« Ich spähte den Hang hinauf.
    »Wozu?«, fragte Sarah.
    Ich sah zu ihr runter. »Um dort mit der Leiche allein zu sein.«
    Ich setzte meinen Aufstieg fort. Havens folgte mir. Sarah bildete das Schlusslicht.

SIEBEN
    Diesmal war es Havens, der fündig wurde. Er entdeckte eine schmale Öffnung in dem Granitfelsen, eine, die man in der Dunkelheit übersehen würde, es sei denn, man wusste genau, wonach man suchte. Wir standen am Eingang einer Höhle.
    »Das gefällt mir nicht«, sagte Sarah mit nervöser Stimme.
    »Wir werfen nur kurz einen Blick hinein«, erwiderte Havens.
    Ich leuchtete den Hang hinunter zu dem murmelnden Fluss. Zu meiner Linken hörte ich ein Knacken, einen Tritt im Wald.
    »Tiere«, sagte Havens.
    Ich knipste die Taschenlampe aus und lauschte. Es knackte wieder. Dann noch zwei Mal. Kleine Geräusche, die in der Dunkelheit wie Schüsse knallten.
    »Entspann dich«, sagte Havens und trat durch den Eingang. Sarahs Gesicht schimmerte im Mondlicht. Mit einem Wink bedeutete ich ihr, uns zu folgen. Dann zog ich den Kopf ein und tastete mich vor.
    Die Höhle war größer, als ich bei dem schmalen Eingang gedacht hatte. Ich schaltete die Taschenlampe wieder ein und leuchtete über die Wände.
    »Jemand zu Hause?«, rief Havens.
    Ich durchquerte die Höhle zum anderen Ende. Auf dem Boden glänzte etwas Silbriges auf. Eine Dose Coors Light, die ich mit dem Fuß wegschob. Zwei zusammengedrückte Bierdosen lagen nicht weit von ihr entfernt.
    »Seht mal her.« Sarah stand im Eingang und langte nach einem Müllsack, den jemand an der Seite aufgeschlitzt und auf dem Boden ausgebreitet hatte.
    »Nicht anfassen«, befahl ich. Sarah schob die Plane mit dem Fuß zur Seite. Darunter lagen leere Kartons von Fertiggerichten, die Überbleibsel einer Mahlzeit.
    »Sieht aus, als hätte da drüben jemand ein Feuer gemacht«, sagte Sarah.
    »Den Müllsack hat er wahrscheinlich als Regencape benutzt oder zum Draufsetzen.« Havens ging in die Hocke und sah sich die Müllsackplane an.
    Ich bewegte mich durch einen langen, niedrigen Bereich in den dunkelsten Teil der Höhle. Einmal rief Sarah meinen Namen, doch danach verebbten die Stimmen meiner Freunde zu undeutlichem Gemurmel. Ich ließ das Licht auf den Wänden spielen, die Konturen des Felsens gerieten ins Tanzen. Ich roch ihn, noch bevor ich ihn sah. Er war in ein Loch der Granitwand gestopft worden.
    Ein einzelnes Auge. Kobaltblau.
    Schnappschuss.
    Sein Körper. Klein. Weiß. Nackt.
    Schnappschuss.
    Ein graues T-Shirt, in Streifen gerissen und fest um seinen Hals gewunden. Hände und Füße mit schmutzigen Seilen gefesselt.
    Schnappschuss.
    Schnappschuss.
    Der Mund des Jungen war wie zum Schrei aufgerissen. Aber er war nicht derjenige, der schrie. Zu meinem Erstaunen war ich es.

ACHT
    Havens war als Erster bei mir. »Alles in Ordnung?«
    Ich dachte tatsächlich, ich hätte geschrien, aber es war wohl nur ein Keuchen gewesen. Havens wartete auf meine Antwort, ich sah ihn stumm an. Sarah nahm die Taschenlampe auf, die ich fallen gelassen hatte. Dann entdeckten die beiden ihn auch.
    »Ach, du Scheiße.« Havens trat auf die Leiche zu. Sarah blieb wie angewurzelt stehen.
    »Fasst bloß nichts an«, sagte ich.
    »Wir müssen uns vergewissern, ob er tot ist.« Mit jeder Silbe schien Sarahs Stimme kleiner zu werden.
    »Er ist tot.« Havens wich einen Schritt zurück. »Sieht aus, als hätten Tiere an ihm genagt.«
    Ich packte Sarahs Arm und führte sie durch den niedrigen Bereich zurück. »Geh rüber zum Eingang. Nimm denselben Weg, den du gekommen bist. Genau denselben. Dabei darfst du nichts berühren.«
    Auch Havens und ich kehrten kurz darauf zurück. Schließlich standen wir zu dritt dicht beisammen vor dem Eingang. Nach unserer Entdeckung fühlte sich die Luft draußen kühl und frisch an.
    »Meint ihr, wir haben Spuren verfälscht?«, fragte Havens.
    Ich warf Sarah einen Blick zu. Sie schüttelte den Kopf.
    »Was ist mit dir, Jake?«
    »Ich habe nichts berührt.«
    »Zeigt mir eure Schuhe«, verlangte
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