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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck
Autoren: Nancy Horan
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einen Blick in die Schachtel zu werfen. »Was ist sonst noch alles da drin?«
    »Nur ein paar von meinen alten Sachen. Papiere…«
    Er setzte sich wieder. »Erzähl mir alles«, sagte er.
    Erzähl mir alles. Ebenso gut hätte er sagen können: »Zieh dein Kleid aus.« Sie hatte eine Sache nach der anderen aus der Schachtel gezogen. Sie hatte ihm ihre Magisterarbeit gezeigt und das Foto von ihrer Graduiertenfeier. Sie hatte ihm von ihren Jahren in Port Huron erzählt, wo sie mit ihrer College-Freundin Mattie zusammen Englisch und Französischunterrichtet hatte. Sie hatte ihm Fotos ihrer Familie gezeigt, vor dem Haus an der Oak Park Avenue.
    »Das hier musst du sein.«
    »Mmh. Das ist meine Schwester Jessie. Sie war die Älteste.« Mamah deutete auf die lächelnde Sechzehnjährige und verspürte den vertrauten Kloß in ihrer Brust. »Und Lizzie. Nun, sie sieht immer noch genauso aus, nicht wahr? Sie ist das mittlere Kind.«
    Frank wandte sich wieder dem schwarzhaarigen Mädchen zu, das in so selbstbewusster Pose dastand, einen Krocketschläger in der Hand, ein Bein lässig vorgestellt. »Wie alt warst du da?«
    »Zwölf.«
    »So viel Unbekümmertheit für ein so junges Mädchen.«
    »Oh, ich glaube, ich hatte damals genau das richtige Alter. War intelligenter als je zuvor oder danach. Es gab keine Grautöne. Ich verehrte meinen Vater. Ich liebte meinen Hund. Ich las für mein Leben gern.«
    Mamah betrachtete das Familienbild. Der Anblick von sich und ihren Schwestern in Matrosenblusen rief eine andere Erinnerung wach. »Wir waren eigentlich ziemlich ungebärdige Kinder. Weißt du, mein Vater war Amateurforscher. Das war seine große Leidenschaft, sie war sogar noch größer als die für die Eisenbahn. Im Sommer nahm er uns mit zu einem ausgetrockneten Flussbett in der Nähe von Kankakee, um Fossilien zu suchen. In einer Gegend, wo es in prähistorischer Zeit ein flaches Meer gegeben hatte. Er brachte uns bei, ganz genau hinzusehen, und meine Augen wurden – zumindest für die Nahsicht – ziemlich scharf. Nichts machte mich glücklicher, als stundenlang in dem Flussbett herumzustromern und im Gestein nach winzigen Muschelabdrücken Ausschau zu halten. Mein Vater hatte immer einen Hammer dabei. Und wenn ich einen vielversprechendaussehenden Stein aufbrach – und darin tatsächlich die Abdrücke von Lebewesen fand, die vor fünfhundert Millionen Jahren dort gelebt hatten –, nun, das war, als öffnete sich eine ganze Welt und ich fiele mitten hinein.« Mamah lachte. »Meine Mutter sorgte sich deswegen zu Tode.«
    Frank wirkte überrascht. »Warum?«
    »Weil sie es vorzog, in der zweiten Reihe der Grace Episcopal-Kirche zu Gott zu finden. Sie verlor die Fassung, wenn sie ihre Töchter mit einem Hammer Steine zerklopfen sah. Sie hatte die Nase voll von Trilobiten und Darwin und dem Gerede meines Vaters über das ›Tier im Menschen‹. Und sie war der Meinung, ich sei bei weitem zu… verträumt, schätze ich, oder zu leicht zu beeinflussen. Ich erinnere mich, wie mein Vater ungefähr um dieselbe Zeit ein Teleskop nach Hause brachte. Es war ein gutes Gerät, und er war gespannt darauf, uns zu zeigen, wie es funktionierte. Nachts gingen wir hinaus, und Jessie und Lizzie durften zuerst hindurchsehen. Sie wurden ganz ehrfürchtig, als sie sahen, wie viele Sterne sie damit erkennen konnten. Aber nachdem meine Mutter einen langen Blick hindurch geworfen hatte, hörte ich, wie sie zu meinem Vater sagte: ›Zeig es nicht Mamah. Sie würde davon überwältigt.‹«
    Frank betrachtete sie nachdenklich.
    »Wenig später nahm meine Mutter mich unter ihre Obhut. Damit waren meine Tage des Steineklopfens zu Ende, und die Tanzstunden nahmen ihren Lauf. Aber inzwischen war ich ein bisschen eigen geworden und machte mir nicht wirklich etwas aus den Dingen, aus denen sich die meisten anderen Mädchen etwas machten. Ich war eher in mich gekehrt, ein Bücherwurm, würde man wohl sagen.«
    Mamah wurde von Franks Aufmerksamkeit ganz schwindlig, und es war ihr ein wenig peinlich, so viel von sich selbstpreiszugegeben. Dennoch fuhr sie fort, Dinge aus der Schachtel zu ziehen. »Noch eines der Erbauungsprojekte meiner Großmutter«, erklärte sie und zeigte ihm kleine deutsche Hefte, mit denen sie angefangen hatte, die Sprache zu lernen. Und dann zeigte sie Frank ihre Geburtsurkunde.
    Er hielt sie ins Licht. »19. Juni 1869«, las er. »Interessant. Ich wurde im selben Jahr geboren, am 8. Juni.«
    Bei jeder anderen Gelegenheit wäre diese
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