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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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nachdem er einem Kameraden begegnet war, der die Rolle der Schildkröte in Lafontaines Fabel gespielt hatte, während er selbst der Hase gewesen war. Während sich zwischen ihnen eine Unterhaltung entspann, wie sie unter Schulkameraden, die sich wieder begegnen, vor sich zu gehen pflegt, und sie in der Sonne auf dem Boulevard des Italiens auf und ab gingen, war er betroffen, zu vernehmen, daß der andere, der anscheinend weniger begabt und weniger wohlhabend als er war, seinen Weg gemacht hatte, weil er an jedem Morgen noch dasselbe wie am Abend vorher gewollt hatte. Der Bedrückte beschloß daher, dieses einfache Tun nachzuahmen.
    »Das soziale Leben ist wie die Erde,« hatte sein Kamerad zu ihm gesagt, »sie bringt uns um so mehr Früchte, je mehr wir sie bearbeiten.«
    Gottfried hatte bereits Schulden gemacht. Als erste Strafe, als erste Buße hatte er sich auferlegt, bescheiden im verborgenen zu leben und von seinem Einkommen seine Schulden zu bezahlen. Für einen Mann, der gewöhnt war, sechstausend Franken auszugeben, wenn er nur fünftausend einnahm, war es kein kleines Unternehmen, seinen Unterhalt mit zweitausend Franken bestreiten zu wollen. Er las alle Morgen die »Kleinen Anzeigen , weil er hoffte, darin ein Asyl zu finden, wo er seine Ausgaben begrenzen und die Einsamkeit finden könnte, die für einen Menschen erforderlich waren, der sich sammeln, sich prüfen und einen andern Weg für sich finden wollte. Das Leben in den bürgerlichen Pensionen des Quartier latin verletzte seine Empfindlichkeit, die Sanatorien hielt er für ungesund, und er verfiel bereits wieder in die fatale Unschlüssigkeit der Leute ohne festen Willen, als sein Auge von folgender Anzeige gefesselt wurde:
    »Kleines Logis für siebzig Franken monatlich, für einen Geistlichen geeignet. Es wird ein ruhiger Mieter gewünscht; er kann Verpflegung und Möblierung der Wohnung zu mäßigen Preisen nach Übereinkunft erhalten.
    Man wende sich an den Kolonialwarenhändler Millet, Rue Chanoinesse, in der Nähe der Notre-Dame- Kirche, der alle erforderlichen Auskünfte erteilt.«
    Angezogen von der biederen Form dieser Anzeige und der bürgerlichen Atmosphäre, die sie verriet, war Gottfried gegen vier Uhr bei dem Kolonialwarenhändler erschienen, der ihm sagte, daß Frau de la Chanterie jetzt bei Tisch sei und niemanden empfangen könne. Die Dame sei abends nach sieben Uhr und morgens von zehn bis zwölf Uhr zu sprechen. Während er das sagte, warf Herr Millet prüfende Blicke auf Gottfried und stellte, wie der amtliche Ausdruck lautet, eine erste Vernehmung mit ihm an. »Ist der Herr Junggeselle? Die gnädige Frau möchte jemanden haben, der ein regelmäßiges Leben führt: das Haus wird spätestens um elf Uhr geschlossen. Der Herr scheint übrigens«, sagte er schließlich, »in den Jahren zu sein, wie es Frau de la Chanterie wünscht.«
    »Für wie alt halten Sie mich denn?« fragte Gottfried. »So etwa um vierzig«, erwiderte der Kaufmann. diese naive Antwort verursachte bei Gottfried einen Anfall von Menschenhaß und Trübsinn. Er speiste am Quai de la Tournelle und kehrte dann zurück, um Notre-Dame zu betrachten in dem Moment, wo die Strahlen der untergehenden Sonne sich an den vielen Strebebögen des Chors brachen und sie mit ihrem Licht übergossen. Der Quai liegt schon im Schatten, wenn die Türme noch vom Glänze umstrahlt sind, und dieser Gegensatz ergriff Gottfried, der noch unter dem bitteren Eindruck der grausamen naiven Äußerung des Kolonialwarenhändlers stand.
    Der junge Mann schwankte noch zwischen verzweifelten Entschlüssen und den zu Herzen gehenden frommen harmonischen Klängen der Kirchenglocken, als er mitten in der Dunkelheit, der Stille und beim Schein des Mondes die Worte des Priesters vernahm. Obgleich wenig gläubig, wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, empfand er doch ein Gefühl der Rührung und kehrte wieder in die Rue Chanoinesse, wohin er eigentlich nicht mehr hatte gehen wollen, zurück.
    Der Priester und Gottfried waren gleicherweise erstaunt, als sie beide in die Rue Massillon, gegenüber dem kleinen Portal der Kathedrale, und dann zusammen in die Rue Chanoinesse einbogen, dort, wo sie, in der Gegend der Rue de la Colombe, Rue des Marmousets heißt. Als Gottfried vor der rundbogigen Tür des Hauses, in dem Frau de la Chanterie wohnte, stillhielt, wandte sich der Priester nach ihm um und betrachtete ihn beim Schein einer Laterne, die zweifellos eine der letzten sein wird, die im Herzen des alten Paris
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