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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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gefragt und davon gesprochen habe, am Morgen den Doktor Halpersohn aufzusuchen; dort würde er sicher Näheres über ihn erfahren. Als August de Mergi in das Arbeitszimmer Halpersohns trat, frühstückte dieser gerade ein Tasse Schokolade nebst einem Glas Wasser, alles auf einem kleinen Tisch neben ihm stehend; er ließ sich durch den jungen Menschen nicht stören und fuhr fort, seine Schnitte in die Schokolade zu tauchen; er aß niemals etwas anderes als ein Franzbrot, das mit einer Genauigkeit in vier Teile geteilt war, die die Geschicklichkeit eines Operateurs verriet. Halpersohn war in der Tat auf seinen Reisen auch als Chirurg tätig gewesen.
    »Nun, junger Mann, sagte er, als er Wandas Sohn hereintreten sah, »kommen Sie auch, um Rechenschaft wegen Ihrer Mutter zu verlangen?...«
    »Ja, mein Herr«, erwiderte August de Mergi.
    August hatte sich dem Tisch genähert, auf dem gleich mehrere Bankbillette zwischen etlichen Goldrollen ihm in die Augen stachen. Bei der Lage, in der sich das arme Kind befand, war die Verführung stärker als seine Grundsätze, so fest sie auch sonst sein mochten. Hier sah er eine Möglichkeit, seinen Großvater und die Frucht von dessen zwanzigjähriger Arbeit, die von schlauen Spekulanten bedroht war, zu retten. Er unterlag der Versuchung. Die Verblendung überfiel ihn mit Gedankenschnelle und erschien dem armen Kinde gerechtfertigt durch seine opfervolle Hingebung. Er sagte sich: ›Wenn ich mich auch ins Verderben stürze, so rette ich doch meine Mutter und meinen Großvater!...‹
    Bei diesem Kampf zwischen Vernunft und Verbrechen entwickelte er, wie die Wahnsinnigen, eine eigenartige momentane Gewandtheit; statt nach seinem Großvater zu fragen, ging er auf die Unterhaltung des Arztes ein. Halpersohn hatte sich, wie alle bedeutenden Beobachter, rückblickend das Leben des Alten, des Kindes und der Mutter zurechtgelegt. Er ahnte oder erkannte die Wahrheit, die die Gespräche mit der Baronin de Mergi ihm enthüllt hatten, und er empfand ein gewisses Wohlwollen für seine neue Klientin; zu Respekt oder Bewunderung war er unfähig.
    »Nun, mein lieber Junge,« erwiderte er in vertraulichem Tone, »ich werde Ihnen Ihre Mutter am Leben erhalten und sie Ihnen jung, schön und gesund wiedergeben. Sie hat eine von den seltenen Krankheiten, die das Interesse der Ärzte erregen, und außerdem stammt sie durch ihre Mutter aus demselben Lande wie ich. Sie und Ihr Großvater müssen den Mut aufbringen, zwei Wochen auszuhalten, ohne sie zu sehen...«
    »Die Baronin de Mergi...«
    »Wenn sie Baronin ist, dann sind Sie also ein Baron?« fragte Halpersohn.
    In diesem Augenblick wurde der Diebstahl vollführt. Während der Arzt seine mit Schokolade getränkte Brotschnitte betrachtete, hatte August vier zusammengefaltete Bankbillette genommen und sie in seine Hosentasche gesteckt, indem er so tat, als stecke er seine Hand hinein, um Haltung zu bewahren.
    »Jawohl, mein Herr, ich bin Baron. Auch mein Großvater ist Baron; er war Generalstaatsanwalt unter der Restauration.«
    »Sie werden rot, junger Mann; man braucht nicht zu erröten, weil man arm und ein Baron ist, das kommt sehr oft vor.«
    »Wer hat Ihnen denn gesagt, mein Herr, daß wir arm sind?«
    »Ihr Großvater hat mir erzählt, daß er die Nacht in den Champs-Elysées verbracht hat; und wenn ich auch keinen Palast mit einer ebenso schönen Decke kenne, wie die, die dort um zwei Uhr morgens strahlte, so versichere ich Ihnen doch, daß es in dem Palast, in dem Ihr Großvater promenierte, recht kalt war. Man sucht nicht aus Liebhaberei das Hotel zu den ›schönen Sternen› auf ...«
    »Mein Großvater war hier?« unterbrach ihn August, der die Gelegenheit ergriff, um fortzukommen; »ich danke Ihnen, mein Herr; wenn Sie gestatten, werde ich wiederkommen, um mir Nachricht über meine Mutter zu holen.«
    Sobald er hinausgelangt war, begab sich der junge Baron zu dem Gerichtsvollzieher, indem er einen Wagen nahm, um schneller hinzukommen, und bezahlte die Schuld seines Großvaters. Der Gerichtsvollzieher übergab ihm die Schuldurkunden und die Kostenaufstellung und sagte ihm dann, er solle sich einen seiner Gehilfen mitnehmen, um die gerichtliche Verwahrerin ihres Amtes zu entheben.
    »Die Herren Barbet und Métivier wohnen ja in Ihrem Viertel,« fügte er hinzu; »mein junger Mann wird ihnen das Geld bringen und ihnen sagen, daß sie Ihnen die Urkunde über das Vorkaufsrecht herausgeben...«
    August, der nichts von diesen Fachausdrücken und
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