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Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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die Folgen häufigen Alkoholmissbrauchs zu pflegen.
    Um halb neun klingelte das Telefon. Mein Magen krampfte sich zusammen, denn ich ahnte, was kam. Sie riefen immer um diese Zeit an.
    „Ihr Sohn ist wieder zu spät gekommen. Und gestern hat er in der Mathematikstunde Karten gespielt!“
    „Hmmm …“
    „Hallo! Sind Sie noch dran?“
    „Ja, ja … Was hat er denn gespielt?“
    „Das ist doch egal. Meistens pokern sie. Mit echtem Geld!“
    „Hat er wenigstens gewonnen?“
    Ich handelte mir den Vorwurf ein, ich nähme die Situation nicht ernst genug. Doch das war nicht richtig. Ich nahm sie schon ernst, die Situation meines Sohnes. Doch stand ich ihr ebenso ratlos und ohnmächtig gegenüber wie meiner eigenen Situation.
    Kapitel 2
    Zum Schlimmsten, was ein Mensch hinterlässt, wenn er geht, gehört der Alltag – man bewegt sich voller Angst darin, wie auf vermintem Gelände. Es war mir zum Beispiel unmöglich, in meiner Küche zu frühstücken, in ebenjener Küche, in der ich so oft zusammen mit Martha und den Kindern gesessen hatte. Es war eine zusammengewürfelte Familie, und manchmal, wenn die Jungs morgens darüber stritten, wer von ihnen das letzte Stück Toast bekam, wenn ich es dann teilte und sie weiter darüber stritten, welche Hälfte die größere sei – da wünschte ich mir den Augenblick herbei, wenn endlich alle fort waren, damit ich in Ruhe Zeitung lesen konnte.
    Jetzt aber waren sie alle fort, und ich konnte es nicht ertragen, die Zeitung in einer Küche zu lesen, in der nicht vier schmutzige Teller und Tassen darauf warteten, abgespült zu werden. Die Küche kam mir vor wie ein Drehort, den das Team längst verlassen hatte. Eine neue Szene hatte begonnen, mit neuen Mitspielern und mit einer neuen Geschichte. Nur ich gehörte nicht mehr dazu.
    Kinobesuche, Abende in der Stammkneipe, der wöchentliche Besuch im Schwimmbad – das waren nur ein paar von vielen Gepflogenheiten, die ich aufgegeben hatte, weil ich die Erinnerungen, die damit verknüpft waren, nicht ertrug.
    Während also Martha, die Frau meines Lebens, nun im Bett eines anderen lag – Gepflogenheiten hin oder her –, machte ich mich auf, um im Café sechs oder sieben Euro für ein Frühstück zu bezahlen, von dem ich nicht satt wurde. Dabei war ich froh, dass ich überhaupt wieder etwas essen konnte. Denn nachdem das Unglück passiert war, hatte ich schlagartig zehn Kilo abgenommen, hatte mich nur noch von Semmeln, Wein, Zigaretten und Psychopharmaka ernährt.
    Vor allem aber zog es mich jeden Morgen ins Café, weil das Frühstück dort zu den wenigen Fixpunkten in meinem haltlosen Leben gehörte. Das Café lag im Uni-Viertel, nicht weit entfernt von meiner Wohnung. Es war bevölkert von jungen Menschen, denen die Sonnenbrille offenbar im Gesicht festgewachsen war; die nie nur Kaffee tranken, sondern ausschließlich Heißgetränke mit italienischen Namen; die nicht halbgare Schnitzel in der Mensa zu sich nahmen, sondern geräucherten Lachs an Salat mit Austernpilzen; die offenbar schon unverrückbar fest im Leben standen, obgleich sie gerade erst dabei waren, Hauptseminarscheine zu sammeln.
    Ich störte mich aber nicht weiter daran. Im Gegenteil, ich fand Gefallen am schönen Schein und dachte mit Unwillen an die Garderobe mancher Mädchen aus meiner Studienzeit – alternative Geschöpfe, die danach trachteten, jegliche Spur von Weiblichkeit unter ausgeleierten, verblichenen Jeans oder unförmigen Kleidern zu verstecken. Für die war es schon Verrat an der althergebrachten 68er-Wahrheit, wenn eine sich die Achselhaare rasierte, gar nicht zu reden von den Schamhaaren – die zu rasieren wäre mit standrechtlicher Erschießung geahndet worden.
    Doch wir Jungs waren ja nicht viel besser gewesen. Schon wer mehr als eine Jeans, drei Freinrippunterhosen, ein paar alte Hemden und einen Bundeswehr-Parka besaß, machte sich als Kollaborateur verdächtig. Und wenn ich auch so mancher mütterlichen Wirtin aus früheren Zeiten nachtrauerte, etwa jener Erika, die drei Zentner wog und als Abendessen vier Asbach-Cola zu sich nahm, so fand ich es nun doch angenehmer, von hübschen jungen Frauen bedient zu werden. Schließlich waren das die einzigen weiblichen Wesen, mit denen ich eine unkomplizierte Beziehung führte: Einen Kaffe und eine Butterbretze bitte. – Ja, gern. – Und bitte vier Tütchen Zucker, zwei sind mir zu wenig. – Geht in Ordnung.
    In diesem streng formalisierten Dialog blieb kein Raum für jene Missverständnisse, welche
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