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Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)

Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Jonathan Sperber
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19. Jahrhunderts hinein, die mehr Macht und Ansehen besaßen. Wir werden in diesem Buch dem britischen Premierminister Lord Palmerston begegnen, dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., dem französischen Kaiser Napoleon III. und dem deutschen Kanzler Otto von Bismarck, Männern, die mit ihrer Politik und ihren Aktionen tief in Marxens Leben eingriffen und zu denen er eine eigene bissige Meinung hatte.
    Prägend für Marx waren auch bedeutende Wissenschaftler und Gelehrte des 19. Jahrhunderts: der Ökonom David Ricardo, der wichtigste Schüler von Adam Smith, und das überragende wissenschaftliche Genie des Jahrhunderts, Charles Darwin.
    Auf der Suche nach Vorbildern für eine Biographie, die das Leben einer komplexen Persönlichkeit im Kontext ihrer Zeit beschreibt, haben mich ältere Marx-Biographien nicht überzeugt. Vorbildlich fand ich dagegen zwei hervorragende Werke über bedeutende historische Gestalten Mitteleuropas, beide sehr verschieden von Marx und in ganz verschiedenen Epochen lebend: Heiko Obermans Biographie Martin Luthers, die den Begründer der Reformation eher als eine Gestalt des späten Mittelalters als eine der frühen Neuzeit erscheinen lässt, und Ian Kershaws viel gepriesene Biographie Adolf Hitlers, die den Nazidiktator direkt ins 20. Jahrhundert, in die Zeit des totalen Krieges verpflanzt. Für das 19. Jahrhundert gibt es zwei ausgezeichnete Studien über deutsche Akademiker, die das Zusammenspiel zwischen dem persönlichen, dem beruflichen, dem politischen und dem privaten Leben betonen, zum einen Constantin Goschlers Biographie des großen Physiologen und politischen Aktivisten Rudolf Virchow, zum anderen Friedrich Lengers einnehmende Lebensbeschreibung des Soziologen und Ökonomen Werner Sombart. Die Haltung, die in diesen Biographien gegenüber dem Gegenstand eingenommen wird, ist durchaus nachahmenswert für eine Biographie von Marx, der natürlich kein Akademiker war, auch wenn er in einer bestimmten Phase seines Lebens einer zu werden hoffte und ihm viele der Gewohnheiten und Praktiken eines deutschen Gelehrten des 19. Jahrhunderts zeit seines Lebens eigen waren.[ 4 ]
    Den Verfasser eines Buches über Marx, auch eines solchen, das ihn im Kontext des 19. Jahrhunderts darstellt, wird man nahezu unweigerlich bitten, sich zu der Frage zu äußern, was Marx uns heute zu sagen hat. Dann gibt es zwei Varianten unter dem Generaltitel Marxologie oder marxistische Theorie. Die einen möchten Marx aktualisieren, seine Ideen relevanter erscheinen lassen, indem sie ihnen etwas hinzufügen oder sie umdeuten im Lichte der Psychoanalyse, des Existentialismus, des Strukturalismus, des Poststrukturalismus oder sie mit Elementen einer sonstigen intellektuellen Bewegung versehen, die in den Jahren zwischen Marx’ Tod 1883 und der Gegenwart aufgetreten sind. Eine andere Version besteht darin, Marx’ Ideen so gründlich zu erforschen, dass man Revisionen und spätere Zusätze tilgen und den Marxismus in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen kann, ein Projekt, das eher zu Anhängern einer Offenbarungsreligion passt als zu Verfechtern einer angeblich säkularen und rationalistischen Theorie.
    Als Historiker, der die Vergangenheit gern aus sich heraus verstehen möchte und ungern nach heutigen Vorstellungen über sie urteilt, finde ich diese Spielarten einer Marxologie ausgesprochen sinnlos. Marxens Leben, seine Denksysteme, seine politischen Bestrebungen gehörten vornehmlich dem 19. Jahrhundert an, einem Abschnitt der Menschheitsgeschichte, der im Hinblick auf die Gegenwart eine sonderbare Stellung einnimmt, weder offenkundig fern und fremd wie das Mittelalter noch in lebendiger Erinnerung wie zum Beispiel die Zeit des totalen Krieges oder die der kommunistischen Regime in Osteuropa von 1945 bis 1989. Hin und wieder kommt es vor, dass das 19. Jahrhundert mit unheimlicher Klarheit und Vertrautheit in die Gegenwart einbricht. Ein vorzügliches Beispiel sind die Revolutionen von 1848, die innerhalb von Monaten rasch von einem Land aufs andere übergriffen – ein zentrales politisches Ereignis des 19. Jahrhunderts, von dem heute nur noch Fachhistoriker wissen. Doch diese vergessenen Aufstände des 19. Jahrhunderts erschienen auf einmal aktuell und vertraut, als die Revolution im Herbst 1989 im kommunistischen Osteuropa um sich griff oder sich im Winter 2011 in der arabischen Welt ausbreitete. Gleiches gilt von dem Verhältnis zwischen Marxens Leben und Denken und der Gegenwart:
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