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Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)

Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Jonathan Sperber
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versteckt auf die Philosophie von G. W. F. Hegel und die neuen, antihegelianischen Ideen der Positivisten anspielt, vielfach auf nur Insidern bekannte Ereignisse aus Marxens Vergangenheit und auf heute vergessene Gegebenheiten der europäischen Politik der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts Bezug nimmt, gewinnt man einen völlig anderen Eindruck. Das Bild von Marx als einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen, ist überholt und sollte einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht, die gegenüber unserer Gegenwart immer weiter in die Vergangenheit zurücksinkt: Er gehört zum Zeitalter der Französischen Revolution, der hegelschen Philosophie, der Anfänge der Industrialisierung in England und der aus ihr abgeleiteten politischen Ökonomie. Vielleicht ist es sogar sinnvoller, Marx als einen rückwärtsgewandten Menschen zu sehen, der die Gegebenheiten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Zukunft projizierte, und nicht als einen souveränen und vorausschauenden Interpreten historischer Tendenzen. Das sind die Prämissen, die dieser Marx-Biographie zugrunde liegen.
    Ergänzt werden diese neuen Prämissen durch eine bemerkenswerte neue Quelle für das Leben und Denken von Marx, die vollständige Ausgabe der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, die allgemein unter dem deutschen Akronym MEGA (für Marx-Engels-Gesamtausgabe ) bekannt ist. Dieses gewaltige Projekt wurde während der zwanziger Jahre in der Sowjetunion in Angriff genommen. Sein sehr energischer erster Herausgeber David Rjasanow, der während der großen Säuberungen Stalins verhaftet und später erschossen wurde, konnte die erste Phase des Projekts zum Abschluss bringen. 1975 wurde die Arbeit unter der Federführung der Institute für Marxismus-Leninismus in Ostberlin und Moskau wieder aufgenommen. Nach 1989 und dem Ende des Kommunismus in Osteuropa wurde das Projekt fortgesetzt, betreut von der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften und geleitet von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Finanziert wird die Ausgabe durch das vereinigte Deutschland, dank der anfänglichen Unterstützung des Projekts durch den konservativen Architekten der deutschen Einheit, Bundeskanzler Helmut Kohl, der von Hause aus Historiker ist. Dieses groß angelegte und bis heute fortgesetzte wissenschaftliche Unternehmen hat das Ziel, alles zu publizieren, was Marx und Engels je geschrieben haben, eingeschlossen ihre Notizen auf der Rückseite von Briefumschlägen. Im Unterschied zu nicht ganz so vollständigen Ausgaben der Werke der beiden Männer bringt diese nicht nur die Briefe, die Marx und Engels selbst verfasst haben, sondern auch die an sie gerichteten Briefe. Diese neue Quelle enthält keinen eindeutigen Beweis, kein einzelnes Dokument, das unser bisheriges Verständnis von Marx ganz und gar umstößt, aber sie fördert Hunderte von kleinen Details ans Licht, die unser Bild von ihm unmerklich verändern.[ 3 ]
    Die MEGA war ursprünglich Teil eines umfassenderen, in den Kalten Krieg eingebetteten Publikationswettkampfes zwischen den kommunistischen Erben der marxschen Ideen in Ostberlin und Moskau sowie seinen sozialdemokratischen Erben am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Godesberg und dem Karl-Marx-Haus in Trier. Diese Konkurrenz führte im Unterschied zu den meisten anderen zu brauchbaren Ergebnissen: einer Flut von Quellenpublikationen, klar umrissenen Einzeldarstellungen und sehr gründlichen wissenschaftlichen Artikeln, die eine Fülle von Informationen über Marx’ Leben und Zeiten lieferten und oft an unbekannten Stellen und in wenig oder gar nicht benutzten früheren Biographien abgedruckt wurden.
    Neben diesen neuen Erkenntnissen über das Leben von Marx gab es Bemühungen von Historikern, neu über die Zeit, in der Marx lebte, nachzudenken. Historiker entwarfen, unbeachtet vom breiten Publikum, in Einzeluntersuchungen eine Neukonzeption des 19. Jahrhunderts, die für ein Verständnis von Marx überaus bedeutsam war. Neuere historische Untersuchungen ergaben, dass das Ausmaß und die Bedeutung der industriellen Revolution überschätzt worden waren, und wiesen darauf hin, dass Konflikte zwischen sozialen Klassen nur eines der Merkmale politischer Auseinandersetzungen insgesamt und der sozialistischen und gewerkschaftlichen Bewegungen im Besonderen waren; dabei machten sie deutlich, dass die
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