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Kaltstart

Titel: Kaltstart
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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und die RAM-Karte zurück in den Rechner (umgekehrter Babuschka-Effekt), das vergesse ich nicht. Einer der Gründe, weswegen ich ein wenig neurotisch mit Datensicherung bin, ist der Babuschka-Effekt.

    Und dann wollte ich einmal, in einer leicht missionarischen Anwandlung, einer Freundin, die bis dahin noch gar nichts davon gehört hatte, die Welt der Computer erklären. Ich tat das unter den denkbar ungünstigsten Umständen, denn erstens war sie in diesem Moment betrunken, zweitens benutzte ich meinen Portfolio-Winzling zur Demonstration. Vielleicht hätte ich gegen ihre Betrunkenheit mit dem Terminal eines IBM-Großrechner mehr Glück gehabt, denn ruckende zuckende Bandspulen und flimmernde Lichter beeindrucken einfach leichter, als ein kleines, schokoladengroßes, graues Kästchen mit einem Bildschirm ohne Beleuchtung. Wir schrieben das Jahr 1990, und ich, der ich mich doch in Computerdingen eigentlich selbst als sehr zurückgeblieben begriff, wollte meiner Freundin etwas Gutes und Nützliches tun. Sie musste es doch lernen! Es war doch die neue Zeit! Da saßen wir beide also an einem Küchentisch, sie mit einem Glas Sekt in der Hand und in aufgekratzter Stimmung, den Portfolio vor uns. Die Kommunikation war ein wenig schwierig. Ich hatte ihr gerade erklärt, dass eine Datei so eine Art Kartoffelsack awi, in den man die Kartoffeln hineinfüllt, um ihn dann zuzuschnüren. Bildlich gesprochen.
    “Und dann, wenn du was geschrieben hast, musst du es also in einer Datei speichern, damit ...”
    “Datei? Hihi. Wieso Datei? Ich seh da immer nur so einen Sack vor mir, wo man Buchstaben und Zahlen reinschüttet und dann oben zuschnürt, hihi ...”
    “Genau darum geht es doch. Wenn du einen neuen Text hast, dann musst du einen neuen Sack aufmachen, und ihn hineintun, sonst ist er weg. Schreib doch mal was.”
    Sie schrieb was, und es war der übliche Mist à la “Ich bin die und die, und schreibe gerade meinen ersten Satz auf einem Computer”, und dann setzte sie noch dahinter: “Und ich bin total besoffen.” Und dann kicherte sie los, und hysterisierte sich in einen richtigen Lachkrampf hinein, der eine ganze Weile dauerte. Danach streichelte sie den Portfolio und sagte ein paar Mal:
    “Das ist ein schönes Kästchen. Fühlt sich richtig gut an. So samtig.” Dann lachte sie wieder.
    Ich kam mir irgendwie nicht so vor, als würde ich richtig ernst genommen.
    “Also wenn du keine Lust darauf hast, dass ich dir das zeige, dann müssen wir das nicht machen. Vielleicht hast du auch ein bisschen viel getrunken.”
    “Nein”, sagte sie grinsend. “Nein, nein. Du machst das sehr gut. Ich hab ein bisschen was getrunken, aber ich kann dir sehr gut folgen. Was kann man denn noch mit diesem Ding alles machen? Zeig mal! Was ist denn jetzt mit dem Kartoffelsack?”
    Und sie sah mich mit diesem verschwiemelt amüsierten Blick der Besoffenen an, die gut drauf sind. Ich hatte meine Zweifel, ob es einen Sinn hatte, ihr irgend etwas zu erklären, außerdem war mein Besitzerstolz gekränkt, aber als ich aufstehen wollte, um dieser unwürdigen Veranstaltung ein Ende zu machen, hielt sie mich am Arm fest und bestand auf einer Fortsetzung der Lektion. Das ging so eine Weile hin und her, und als ich dann wirklich aufstand, weil es mir doch zu dumm wurde, fühlte ich mich gedemütigt. Es war die Demütigung des Missionars angesichts eines Wilden, der über die Bilder in seiner Bibel lacht.

    Eine Zeit lang musste ich glauben, mein Portfolio sei gestorben. Ein Wackelkontakt an der Stromversorgung verführte mich zu der Idee, ihn dauerhaft mit Batteriestrom zu betreiben. Das war etwa drei Wochen lang erfolgreich, dann erlitt das Maschinchen einen plötzlichen Gehirntod und ließ sich weder durch frische Batterien noch durch gutes Zureden wieder zum Leben erwecken. Ich bettete es in meinem kleinen Friedhof für defekte und veraltete Elektronik zur Ruhe. Ich hoffte, es sei mit seinem einfachen Grab zwischen dem Doublespeed-CD-ROM-Laufwerk und den veralteten 16 MB RAM-Modulen zufrieden. Ein Herz, das 4,92 Millionen Male pro Sekunde geschlagen hatte, lag still. Mein Schmerz wurde durch die Preisschildchen an den richtigen Laptops in den Computerläden enorm verstärkt: Etwas Vernünftiges kostete wiederum 4000 DM. Ich weinte. Und hätten diese digitalen Schwarzeneggers mit ihrer Rechenpower, ihren hintergrundbeleuchteten TFT-Bildschirmen, ihren Gigabytes an Speicherkapazität, ihren Infrarotschnittstellen, ihren gigantischen Tastaturen
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