Kalter Süden
Enköping, vorbei an Rissne, Rinkeby und Tensta. Vorbei an Hochhäusern, Reihenhäusern, leeren Schulen und einem verlassenen Fußballplatz. Auf der Schnellstraße neben dem S-Bahnhof bei Barkarby musste Annika plötzlich bremsen. Sie reckte den Hals und spähte über die Autoschlange nach vorn, ob vielleicht ein Unfall passiert war, irgendetwas, was sie an die Zeitung durchgeben konnte. Vielleicht war ein Fußgänger angefahren worden. Oder jemand hatte sich vor den Zug geworfen. Das passierte ziemlich oft.
Aber anscheinend war nichts Größeres vorgefallen, denn der Verkehr begann wieder zu rollen, dicht und zäh. Die Bebauung lichtete sich, Nadelwald und Industriegebiete nahmen zu. Die Straßenverhältnisse waren schlecht, und das Auto vor ihr spritzte ihr graubraunen Matsch auf die Windschutzscheibe, so dass sie die Scheibenwischer auf höchste Stufe stellen musste. Sie schaltete das Radio an, landete aber mitten in einem Werbeblock und machte es wieder aus.
Die Landschaft um sie herum löste sich immer mehr auf. Die Industriegebiete verschwanden, nur die Nadelbäume blieben übrig. Ihre Zweige streckten sich nach dem Auto, demselben schmutzigen Volvo, mit dem sie nach Garphyttan hinaufgefahren war, an jenem Tag im Dezember, an dem sie Alexander fand.
Bei Brunna bog sie nach rechts ab, Richtung Roligheten. Auf einmal hörte der Regen auf, und alles war still. Annika hatte einen ausnehmend schlechten Orientierungssinn, deshalb studierte sie die Karten genau und schrieb sich die Strecken vorher exakt auf. Bei Lerberga nach links, dann nach achthundert Metern wieder links, vorbei an Fornsta. Durch ein militärisches Übungsgelände und dann nach rechts.
Sie wollte zum Lejongården, einem Familienheim am Lejondalssjön, wo sich Julia Lindholm mit ihrem wiedergefundenen Sohn aufhielt.
Annika hatte versprochen, die beiden zu besuchen, sich aber bislang davor gedrückt. Sie wusste nicht, was sie erwartete, denn sie hatten sich erst zweimal gesehen, beide Male unter extremen Umständen.
Beim ersten Mal waren sie zusammen direkt in den Mordfall an der Sankt Paulsgatan auf Söder hineingestolpert. An jenem Abend hatte Annika die Polizistin Julia und ihre Kollegin Nina Hoffman bei ihrer Streife im Wagen 1617 durch Södermalm begleitet. Der Funkspruch klang nicht besonders alarmierend, ein häuslicher Streit, hieß es, und unter der Bedingung, dass sie sich im Hintergrund hielt, durfte Annika mit hinaufgehen. Nina hatte sie sofort weggeschickt, als sie die Verletzten entdeckten.
Bei ihrer zweiten Begegnung hatte Julia im Gefängnis gesessen, verdächtig des Mordes an ihrem Ehemann, dem prominenten Polizisten David Lindholm, und an ihrem Sohn Alexander. Sie war zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dass sie die ganze Zeit beteuert hatte, sie sei unschuldig und eine andere, ihr unbekannte Frau habe ihren Mann erschossen und Alexander mitgenommen, hatte niemanden gekümmert.
Ihrem Sohn Alexander war Annika erst einmal begegnet, in der Nacht, als sie ihn in Yvonne Nordins Waldhütte außerhalb von Garphyttan aufspürte. Der Junge war sieben Monate lang in der Gewalt der Mörderin gewesen, als Annika ihn wiederfand.
Die Autoscheinwerfer trafen auf eine grobfaserige Holzfassade in leicht glänzendem Ochsenblutrot – also nicht das echte schwedische Falunrot, sondern Ölfarbe. Annika bog auf den Hof, zog die Handbremse an, schaltete die Scheinwerfer aus und blieb bei laufendem Motor im Dunkeln sitzen.
Haus Lejongården war ein flaches dunkles, einstöckiges Gebäude, das am Ufer des Lejondalssjön stand. Es sah aus wie ein Kindergarten oder vielleicht eher wie ein kleineres Altenheim. Im Schein der Eingangsbeleuchtung war ein kleiner Spielplatz zu erkennen. Der See lag still und grau im Hintergrund.
»Ich möchte mich wirklich bei Ihnen bedanken«, hatte Julia am Telefon gesagt, und ihre Worte hatten Annika verlegen gemacht.
Sie fuhr sich übers Haar, stellte den Motor ab und stieg auf den Kiesplatz hinaus.
Am Eingang blieb sie stehen und blickte über den See. Ein paar kahle Birken wiegten sich zögernd am Ufer, die Zweige ebenso grau wie das Wasser. Einige hundert Meter vom Ufer entfernt ragte eine baumbestandene Insel aus dem See. In weiter Ferne war das Dröhnen der Autobahn zu hören.
Die Tür ging auf, und eine Frau in Strickjacke und Schaffellhausschuhen sah heraus.
»Annika Bengtzon? Hallo, ich bin Henrietta.«
Sie gaben sich die Hand. Henrietta? Müsste sie wissen, wer diese Frau
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