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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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ein Gefängnis aus Stein. Chretien war fasziniert näher an die Flammen herangetreten, und auf seinem Gesicht lag eine krankhafte Freude, Hunger, Gier. Er lauerte darauf, fast begierig erschien es Luc, an der mächtigsten aller Seelen zu wachsen, auf dass er selbst der Mächtigste würde.
    Sybille aber rief dem Kardinal zu: »Ihr glaubt, Ihr habt gewonnen, Domenico! Doch das ist die Magie: Der Sieg ist unser!«
    Dann schaute sie auf Luc, und ihr brach die Stimme vor Schmerzen, doch es war der Schmerz des Mitgefühls und ihrer drängenden Liebe, einer göttlichen Liebe, die direkt von ihrem Herzen in sein Herz reichte. »Luc de la Rose, erinnere dich!« Und er erinnerte sich.
    Edouard sagte: »Trink ...«, und Luc lag wieder an der Brust seiner Mutter, voller Wonne, voller Freude ... Doch seine Gefühle wurden zerschmettert, als sie ihn zu Boden schleuderte, als sie aufheulte und die mütterliche Zuneigung in ihren Augen etwas Teuflischem, Unheilvollem wich...
    Und er erinnerte sich, wie das kleine Mädchen auf dem Wagen allein bei seinem Anblick aufschrie.
    An die Stimme des Feindes, die ihm zuflüsterte: So wie du deine Mutter zerstört hast, wirst du sie zerstören...
    All die Jahre hatte er sich etwas vorgemacht, hatte sich eingeredet, es sei seine größte Furcht, seine Mutter könnte als Wahnsinnige sterben. Doch nun erkannte Luc, dass es Sybille gewesen war, immer nur Sybille, um die er Angst gehabt hatte. Er hatte immer schon gewusst - oder nicht? -, dass er für ihr grausames Schicksal verantwortlich wäre. Und so war es: Jetzt starb sie seinetwegen, wegen seines Unvermögens, sich der Wahrheit zu stellen. Er hatte sich geweigert, sich seiner Furcht zu stellen, als Edouard ihm den Trank verabreicht hatte; er hatte sich geweigert, sich an den schrecklichen Augenblick zu erinnern, als der Feind zum ersten Mal die Kontrolle über seinen Geist übernommen hatte - als er ihm den unerträglichsten Anblick gezeigt hatte, dasselbe Furcht erregende Bild, das auch Sybille nur mit großer Mühe überwunden hatte:
    Er selbst als Michel, der Inquisitor. Der Inquisitor, dessen Zeugnis seiner Geliebten den Tod bringen würde ...
    Vergib mir, betete Luc im Stillen, denn er war inzwischen zu schwach, um die Worte laut auszusprechen. Vergib mir, denn ich bin nicht mehr er, sondern Luc.
    Mit der Klarheit eines Sterbenden wusste er, welche Entscheidung vor ihm lag. Entweder er hielt die Furcht von sich fern und starb noch vor seiner Geliebten, verriet auf ewig das Geschlecht und verdammte seine Sybille zu einem sinnlosen Opfer - oder er ergab sich vollkommen.
    Er ergab sich.
    Die Nähe der Göttin kam über ihn mit einer Süße, die er nur einmal gekostet hatte, als sein Lehrer Jakob ihm die Hände auf die Schultern gelegt hatte. Und im Rausch dieses Gefühls stützte Luc sich auf seine Ellenbogen, vergaß seine tödliche Wunde und lachte laut auf vor Strahlen, vor Wonne.
    Er erinnerte sich an Papa, Maman, Nana, und sie alle wurden in seinem Geist und seinem Herzen lebendig, für sie alle empfand er echte Liebe und Sehnsucht. Luc schluchzte laut auf, doch nicht vor Kummer, sondern vor Freude, denn die Erinnerung brachte ihm die glückliche Erkenntnis, dass er Sybille nicht allein zu ihrem Schicksal verdammt hatte. Sie selbst war sich schon immer bewusst gewesen, für ihn bis in den Tod gehen zu müssen, um ihn zu weihen. Aus freien Stücken hatte sie sich Chretien ergeben. Nun war in Lucs Herzen nichts geblieben, was er fürchtete, kein Kummer, kein Schatten, nur grenzenlose Liebe und Wissen.
    Mächtig erhob sich die Stimme, nicht nur durch ihn, sondern mit ihm, als wären sie eins, und sie tönte mit Leidenschaft und Überzeugung in seinem Herzen: »Hört mich an! Schaut auf das Gesicht der Frau, die Ihr tötet. Seht, was da leuchtet, ist nicht der Widerschein des Feuers, sondern es ist das Strahlen Gottes - der Heiligen Mutter Gottes. Werft Eure Waffen fort und kniet vor ihr nieder, denn Ihr seht vor Euch eine wahre Heilige.«
    Plötzlich erhob sich Luc mit Leichtigkeit und blickte vom Feuer weg zu jenen, die es bewachten. Alle Wachen hatten in der Tat ihre Schwerter abgelegt und waren ehrfürchtig und mit gesenktem Kopf niedergekniet. Nur Thomas und Chretien standen noch, Thomas mit triumphierender Miene. Chretien aber, das Gesicht von rachsüchtigem Hass verzerrt, zückte einen Dolch, den er unter seinem Umhang verborgen hatte, und eilte auf Luc zu.
    Luc rührte sich nicht und zuckte nicht vor ihm zurück, sondern breitete
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