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Just Kids

Titel: Just Kids
Autoren: Patti Smith
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Aufstehen helfen, doch dann versagte seine Kraft. »Ich sterbe, Patti«, sagte er. »Es tut so weh.«
    Er schaute mich an, mit diesem liebe- und vorwurfsvollen Blick. Meine Liebe konnte ihn nicht retten. Seine Liebe zum Leben konnte ihn nicht retten. Zum ersten Mal wusste ich mit Gewissheit, dass er sterben würde. Er litt körperliche Qualen, die man keinem Menschen wünschte. Er schaute mich an, und sein Blick bat mich um Verzeihung. Ich ertrug es nicht und brach in Tränen aus. Er schalt mich dafür, nahm mich aber in den Arm. Ich versuchte eine heiterere Miene aufzusetzen, doch es war zu spät. Ichkonnte ihm nichts mehr geben als meine Liebe. Ich stützte ihn bis zum Sofa. Gott sei Dank musste er nicht husten und schlief mit dem Kopf auf meiner Schulter ein.
    Das Licht fiel durch die Fenster auf seine Fotografien und uns beide, wie wir in poetischer Komposition ein letztes Mal nebeneinander saßen. Der sterbende Robert: Stille erschaffend. Ich, die bestimmt war, weiterzuleben, auf eine Stille lauschend, die auszudrücken ein ganzes Leben erfordern würde.
    Lieber Robert,
Wenn ich wach liege, frage ich mich oft, ob du auch gerade wach liegst. Hast du Schmerzen oder bist du einsam? Du hast mich aus der dunkelsten Zeit meines jungen Lebens gerettet, als du mich in das heilige Mysterium des Künstlerseins eingeweiht hast. Durch dich habe ich sehen gelernt, und keine Zeile, die ich schreibe, und keine Linie, die ich zeichne, ist ohne das Wissen denkbar, das ich während unserer kostbaren gemeinsamen Zeit erworben habe. Dein Werk, das einer sprudelnden Quelle zu entspringen scheint, führt zurück bis zum nackten Lied deiner Jugend. Du hast damals davon gesprochen, Gott hielte deine Hand. Vergiss nie, Robert, egal, was geschieht, du hast diese Hand immer in deiner gehalten, halte sie fest und lass sie niemals los.
Als du an dem Nachmittag neulich an meiner Schulter eingeschlafen bist, bin ich auch eingenickt. Doch als ich all deine Arbeiten und Sammelstücke betrachtete und mir im Geist dein gesamtes künstlerisches Schaffen über all die Jahre hinweg vor Augen führte, kam mir der Gedanke, dass von all deinen Werken du selbst immer noch das schönste bist. Das allerschönste von allen.
    Patti

    Er konnte als erstickender Umhang kommen, als samtenes Blütenblatt. Es war nicht der Gedanke selbst, es war die Gestalt des Gedankens, die ihn quälte. Er fuhr in ihn hinein wie eine scheußliche Spukgestalt und ließ sein Herz so laut, so unregelmäßig schlagen, dass seine Haut zitterte und er meinte, er läge unter einer unheimlichen Maske, zart, aber erstickend.
    Ich hatte geglaubt, ich würde bei ihm sein, wenn er starb, aber es kam anders. Ich erlebte die Phasen seines Sterbens bis kurz vor elf, da hörte ich ihn zum letzten Mal. Sein Atem ging so laut, dass ich die Stimme seines Bruders am Telefon kaum verstehen konnte. Aus irgendeinem Grund erfüllte mich dieser Klang mit einem seltsamen Glücksgefühl, als ich die Treppe hochstieg, um mich schlafen zu legen. Noch lebt er, dachte ich. Noch lebt er.

    Robert starb am 9. März 1989. Sein Bruder rief mich am frühen Morgen an. Ich war gefasst, denn ich wusste ja, dass es so kommen würde, fast auf die Stunde genau. Ich saß da und lauschte mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien der Arie aus Tosca. Plötzlich spürte ich, wie ich zitterte. Ich wurde überwältigt von einem Gefühl der Erregung, der Beschleunigung, als ob ich durch unsere enge Verbindung zueinander nun teilhaben würde an Roberts neuem Abenteuer, dem Wunder seines Todes.
    Dieses aufwühlende Gefühl hielt mehrere Tage an. Ich war mir sicher, dass mir nichts anzumerken war. Doch vielleicht war meine Trauer doch offensichtlicher, als ich glaubte, denn plötzlich packte mein Mann uns alle ins Auto, und wir fuhren Richtung Süden. Wir fanden ein Motel am Meer und blieben dort über die Ostertage. In meinem schwarzen Regenmantel ging ich am menschenleeren Strand spazieren. Gehüllt in dessen asymmetrischenweiten Falten kam ich mir wie eine Prinzessin oder ein Mönch vor. Ich wusste, Robert hätte dieses Bild gefallen: ein milchiger Himmel, ein graues Meer und dieser schwarze Mantel.
    Dort am Meer, in der Allgegenwärtigkeit Gottes, beruhigte ich mich endlich. Ich stand da und schaute in den Himmel. Die Wolken hatten die Farben eines Gemäldes von Raphael. Einer blutenden Rose. Ich hatte das Gefühl, er selbst hätte sie gemalt. Du wirst ihn sehen. Du wirst ihn erkennen. Du wirst seine Handschrift erkennen.
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