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Just Kids

Titel: Just Kids
Autoren: Patti Smith
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war auf der Warteliste des Columbia-Presswerks in Pitman und bei der Campbell Soup Company in Camden, aber mir wurde schon beim Gedanken an beide Jobs schlecht.Mein Geld reichte für eine einfache Fahrkarte. Ich hatte vor, mich bei sämtlichen Buchläden in der Stadt zu bewerben. Die Arbeit erschien mir wie für mich geschaffen. Meine Mutter, die als Kellnerin arbeitete, schenkte mir weiße Keilabsatzschuhe und eine frische Uniform in einer einfachen Verpackung.
    »Als Kellnerin hast du bestimmt keine Zukunft«, sagte sie, »aber nimm sie lieber mal mit.« Das war ihre Art, mir ihren Segen zu geben.
    Es war ein Montagmorgen, der 3. Juli. Ich brachte den tränenreichen Abschied hinter mich und ging zu Fuß die eine Meile bis nach Woodbury, wo ich in den Broadway-Bus nach Philadelphia stieg. Ich kam durch mein geliebtes Camden und grüßte respektvoll die traurige Fassade des ehemals florierenden Walt Whitman Hotels. Es gab mir einen Stich, diese Stadt im Niedergang zu verlassen, aber hier gab es keine Arbeit für mich. Die große Schiffswerft wurde gerade dichtgemacht, bald würden alle auf der Straße stehen und Arbeit suchen.
    Ich stieg an der Market Street aus und schaute noch bei Nedick’s rein. Ich warf einen Vierteldollar in die Jukebox, spielte beide Seiten einer Nina-Simone-Single und gönnte mir einen Abschieds-Donut und Kaffee. Dann ging ich hinüber zur Filbert Street, wo sich der Busbahnhof befand, gegenüber dem Bücherstand, an dem ich mich in den letzten paar Jahren so oft rumgetrieben hatte. Ich blieb dort stehen, wo ich meinen Rimbaud stibitzt hatte. An derselben Stelle lag jetzt eine zerlesene Ausgabe von Liebe in Saint Germain-de-Prés mit grobkörnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Pariser Nachtleben Ende der Fünfziger. Die Fotos der wunderschönen Vali Myers mit ihrem wilden Haar und den kajalumrandeten Augen, die auf den Straßen des Quartier Latin tanzt, machten tiefen Eindruck auf mich. Dieses Buch klaute ich nicht, aber ihr Bild blieb mir im Gedächtnis.
    Es war ein herber Schlag, dass der Fahrpreis nach New York sich seit meiner letzten Fahrt so gut wie verdoppelt hatte. Ichkonnte mir das Ticket nicht leisten. Ich ging in eine Telefonzelle, um nachzudenken. Ein echter Clark-Kent-Moment. Ich dachte daran, meine Schwester anzurufen, aber ich hätte mich geschämt, nach Hause zurückzufahren. Doch siehe da: Auf der Ablage unter dem Telefon lag auf dem dicken Telefonbuch eine Geldbörse aus weißem Lackleder. Sie enthielt ein Medaillon und zweiunddreißig Dollar, was fast dem Wochenlohn bei meinem letzten Job entsprach.
    Obwohl ich wusste, dass ich Unrecht tat, nahm ich das Geld, gab das Portemonnaie aber am Fahrkartenschalter ab und hoffte, dass die Besitzerin zumindest das Medaillon wiederbekommen würde. Es hatte sich nichts darin befunden, das auf ihre Identität hätte schließen lassen. Ich kann dieser unbekannten Wohltäterin nur danken, wie ich es im Stillen im Lauf der Jahre oft getan habe. Sie war diejenige, die mir den letzten entscheidenden Schubs gab, ein diebisches »Viel Glück«. Ich betrachtete das Stipendium aus der kleinen weißen Geldbörse als Fingerzeig des Schicksals, dass ich meinen Weg gehen sollte.
    Ich war zwanzig Jahre alt und bestieg den Bus. Ich trug meine Jeans, einen schwarzen Rollkragenpulli und den alten grauen Regenmantel, den ich in Camden gekauft hatte. Mein gelb-rot kariertes Köfferchen enthielt einige Zeichenstifte, ein Notizbuch, Illuminationen, ein paar Kleidungsstücke und Bilder von meinen Geschwistern. Ich war abergläubisch. Heute war Montag; ich war an einem Montag geboren. Es war ein guter Tag, um in New York City einzutreffen. Niemand erwartete mich. Alles wartete auf mich.
    Ich fuhr sofort mit der U-Bahn von Port Authority zur Jay Street-Borough Hall nach Brooklyn, dann zur Hoyt-Schemerhorn und DeKalb Avenue. Es war ein sonniger Nachmittag. Ich hatte gehofft, dass meine Freunde mich aufnehmen würden, bis ich eine eigene Wohnung fand. Ich ging zu dem Brownstone-Haus unter der Adresse, die ich von ihnen hatte, aber sie waren umgezogen. Der neue Mieter war freundlich. Er wies auf einZimmer im hinteren Teil der Wohnung und meinte, sein Mitbewohner wüsste vielleicht die neue Adresse.
    Ich betrat das Zimmer. Auf einem schlichten Eisenbett schlief ein Junge. Er war blass und dünn, mit Unmengen dunkler Locken, nacktem Oberkörper und Glasperlenketten um den Hals. Ich blieb stehen. Er schlug die Augen auf und lächelte.
    Als ich ihm meine Nöte
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