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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Lebensart setzen sie an die Stelle der ernsten Pflichten; schöne Reden werden höher gehalten als schöne Handlungen und die Einfalt guter Sitten gilt für bäuerisches Wesen.
    Welchen Eindruck müssen nicht derartige Gemälde auf einen Herrn vom Lande machen, wenn er die Offenheit, mit welcher er seine Gäste empfängt, verspotten und die Lust, welche er in seinem Bereiche herrschend zu machen sucht, als pöbelhaftes Juchhei behandeln sieht? Oder auf seine Frau, wenn sie erfährt, daß die Erfüllung der häuslichen Pflichten unter der Würde einer Dame ihres Ranges ist? Oder auf seine Tochter, wenn die verrenkten Manieren und der Bombast der Stadt ihr Verachtung einflößen für den ehrlichen Nachbar, der freilich nur ein schlechter Landmann ist und sie geheiratet hätte? Sie wollen nun allesammt nicht mehr Krautjunker sein, ihr Dorf wird ihnen verhaßt, sie lassen ihr altes Schloß im Stiche, welches bald verfällt, und ziehen in die Hauptstadt, wo der Vater, mit seinem S. Louis-Kreuz aus einem Herrn, was er war, ein Knecht oder ein Industrieritter wird; die Mutter etablirt ein Spielhaus; die Tochter lockt die Spieler heran und der gewöhnliche Fall ist, daß sie alle Dreie, nach einem schändlichen Leben, in Schmach und Elend sterben.
    Die Herren Autoren, Literaten, Philosophen schreien unaufhörlich, daß man nicht seine Bürgerpflichten erfüllen, noch seinen Nebenmenschen dienen könne, wenn man nicht in der großen Stadt lebe. Wenn man Paris nicht mag, so haßt man, ihrer Meinung nach, das menschliche Geschlecht; das Volk vom Lande ist in ihren Augen nichts; nach ihren Reden sollte man wirklich meinen, daß es nur Menschen giebt, wo man Pensionen, Akademien und Diners hat.
    Allgemach reißt derselbe Hang alle Stände hin. Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Alles stichelt auf die Provinz, macht die schlichten Sitten, wie sie auf dem Lande herrschen, lächerlich und predigt die Manieren und Vergnügungen der großen Welt: eine Schande, diese nicht zu kennen, ein Unglück, sie nicht zu genießen. Wer weiß, mit wie vielen Gaunern und öffentlichen Dirnen die Lockung dieser eingebildeten Freuden Paris tagtäglich bevölkert! So kommen dem Mißgriffe des politischen Systems Vorurtheile und die öffentliche Meinung zu Hülfe, um die Bewohner jedes Landes auf einigen Punkten des Gebietes zusammenzuschichten, daß alles Uebrige öde und menschenleer bleibt; so entvölkern sich die Länder, um die Hauptstädte glänzend zu machen, und dieser eitle Schimmer, der die Augen der Narren blendet, macht, daß Europa schnellen Schrittes seinem Untergange entgegengeht. Es ist zum Heile der Menschen dienlich, daß man diesen Strom vergifteter Maximen aufzuhalten suche. Es ist der Prediger Gewerbe, uns zuzurufen: Seid gut und vernünftig! ohne sich weiter um den Erfolg ihrer Ermahnung viel Sorge zu machen. Der Bürger, der sich Sorge darum macht, muß nicht so dumm sein und nur rufen: Seid gut! sondern uns den Stand lieb machen, in welchem wir es werden können.
    N. Einen Augenblick — schöpfen Sie Athem! Ich mag das gern, was auf's Nützliche abzielt, und ich bin diesmal so sehr mit Ihren Gedanken gegangen, daß ich an Ihrer Stelle fortfahren kann.
    Es ist, Ihrer Entwicklung nach klar, daß man den Werken der Einbildungskraft nicht anders eine nützliche Richtung geben kann, als indem man sich ein Ziel steckt, welches dem, das ihre Verfasser gewöhnlich vor Augen haben, entgegengesetzt ist: alles Bestehende fern halten, zur Natur zurücklenken, den Menschen Liebe zu einem gleichmäßigen und einfachen Leben einflößen, sie von den grillenhaften Vorurtheilen heilen, ihnen Geschmack an wahren Freuden beibringen, ihnen die Einsamkeit und den Frieden lieb machen, sie in einiger Entfernung von einander halten und anstatt sie in Städten zusammenzuschichten, sie dazu bewegen, daß sie sich gleichmäßig über das Land vertheilen, um es aller Orten zu beleben. Ich sehe auch, daß es sich nicht darum handelt, Daphnisse, Sylvandre, arkadische Schäfer, poetische Bauern, die mit eigener Hand ihr Land bauen und dabei über die Natur Philosophiren und sonst dergleichen romantische Wesen, die es nur in Büchern giebt, aus den Leuten zu machen, sondern Denen, die sich im Wohlstand befinden, zu zeigen, daß die Pflege des Bodens und das Landleben Freuden gewährt, von welchen sie keine Ahnung haben, daß diese Freuden nicht so ungenießbar und tölpisch sind, als sie denken, daß auch darin Geschmack, Sinn, Gefühl walten können, daß
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