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Jerusalem

Titel: Jerusalem
Autoren: Hanns Kneifel
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für kurze Zeit, auf einer winzigen Insel der Ruhe inmitten eines Meeres von Mord, Blut und Niedertracht.
    Von irgendwoher drang der Schrei eines Menschen in Todesangst. Und in der Stille hörten sie, dass die übrige Stadt keineswegs schlief.
    Nahezu die ganze Nacht ging das Morden weiter. Die Ritter und Fußkämpfer waren vom Heiligen Geist besessen. Sie erschlugen im Fackelschein die Muslime, überall dort, wo noch Flüchtende lebten. Tancred hatte im letzten Abendlicht die Einheimischen gezwungen, seine Fahne auf der Kuppel der Al-Aqsa-Moschee aufzupflanzen; die Muslime fühlten sich durch sein Versprechen geschützt. Tancreds Rotten plünderten den Felsendom und erbeuteten Schätze, deren Wert sie nicht einmal abzuschätzen vermochten.
    Die Fürsten bemächtigten sich der von ihnen eroberten Häuser, ließen die Kriegsknechte weiter wüten und legten die blutbesudelten Rüstungen ab. In einfacher Kleidung schritten die Fürsten und Geistlichen einmal um die Innenmauern der Stadt, dann zur Grabeskirche. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen öffneten ihnen Christen, die sich in der Kirche verborgen gehalten hatten, die Tore und kamen ihnen mit Kreuzen und Reliquien in den Händen entgegen. Weinend vor Glück näherten sich die Pilger dem Grab Christi und feierten dort eine Messe mit frommen Liedern und Händeklatschen.
    Inzwischen waren die Türme mit christlichen Kriegern besetzt, und alle Tore wurden bewacht. Bei Sonnenaufgang erreichten Scharen aus den verschiedenen Heeren die Moschee, achteten nicht auf Tancreds Fahne und verschafften sich Eingang. Mit Pfeilen schossen sie die Geflüchteten vom Dach und töteten mehrere Tausend Muslime, die sich in der Moschee gerettet geglaubt hatten.
    Kinder, Frauen und Männer wurden erschlagen, Rechtsgelehrte, Imame, Asketen und fromme Muslime, Besucher aus anderen Städten. Der Boden der Moschee füllte sich mit Blut; bei jedem Schritt klebten die Stiefel am Boden. Köpfe, Arme und Körper lagen übereinander und nebeneinander in der roten Flut, im Gotteshaus und rund um dessen Mauern. Die Bewaffneten waren vom Kopf bis zu den Füßen von frischem und getrocknetem Blut bedeckt und halb taub von den Todesschreien der Muslime. Auf dem weiten Tempelplatz und auf jeder Stufe der Aufgänge lagen tote Pferde, geköpfte und in Stücke gehauene Menschen und einzelne Gliedmaßen. Blut sickerte über die Stufen und gerann zu breiten Zapfen, tropfte von den Mauern und tränkte jedes Kleidungsstück. Die Franken rannten und hasteten über eine Schicht blutbedeckter Körper und hieben mit Schwertern und Beilen auf jeden Körper ein, der sich bewegte. Die Fesseln der Pferde waren rotgefärbt, drei, vier oder fünf Handbreit hoch.
    Einzelne Pilger schnitten die Körper der Erschlagenen auf, rissen die Mägen heraus und suchten darin nach goldenen Münzen oder Schmuck. Man hatte ihnen erzählt, dass die Sarazenen das Gold schluckten, damit es nicht in die Hände der Christenhunde fiel. Bald war Jerusalem eine Stadt, in der nur noch Christen lebten. Und einige Handvoll gefangene Muslime und versteckte Juden.
    Die Juden hatten sich zumeist in ihre Synagoge geflüchtet. Wenn die Stadt ein Hort der Christen werden sollte, mussten auch die Juden vernichtet werden. Bald brannte die Synagoge. Jeder Versuch der Verzweifelten, aus dem erstickenden Rauch und den Flammen auszubrechen, endete tödlich: Die Franken erschlugen jeden, der ihnen aus den Rauchwolken heraus entgegenstolperte. Fast einen ganzen Tag lang loderten die Flammen und stieg der Rauch aus dem Bauwerk auf. Glühende Balken und Mauertrümmer fielen auf die Verwundeten, Leichen und in die Blutbäche. Unsagbarer Gestank breitete sich aus, als die Leichen und ihre blutgetränkten Kleider zu brennen anfingen.
    Alle wichtigen Stellen, an denen die Stadt verteidigt werden konnte, waren abgesichert und von Franken besetzt. Nach 463 Jahren, hatten die Priester beim Dankgottesdienst gesagt, war Jerusalem wieder in der Hand der Christenheit.
    Am nächsten Morgen begannen die überlebenden Muslime und Juden, aber auch viele Haufen Pilger, die Leichen und die Leichenteile fortzuschaffen, in Körben, Decken, auf den Rücken von Eseln, Maultieren und Pferden und auf kleinen Karren, die man auf dem Markt entdeckt hatte. In der Hitze begannen die Leichen zu faulen und zu stinken, und die Fürsten fürchteten den Ausbruch von Seuchen. Vor den Mauern wurde alles Holz, das von zerstörten Belagerungsmaschinen kam, die halb verbrannten Balken, dorniges
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