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Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt

Titel: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Autoren: Audur Jónsdóttir
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Geheimnis zu verbergen, immer deutlicher erinnerte ihr Körper sie an das furchtbare Ereignis. Fatima brauchte eine Freundin und sah Arndís mit mutlosen Augen an.
    Diese nahm sie in den Arm wie eine Mutter. Energisch verbot sie Fatima, ihren Verwandten auch nur ein Wort zu sagen. Sie hatte oft genug gelesen, wie Männer aus diesem Grund Frauen verstießen; Frauen, die ihnen vertrauten und die sie vorgaben zu lieben. Und selbst wenn die Cousins ihr helfen wollten, könnten andere Familienmitglieder sich gegen sie wenden, zum Beispiel dieser engstirnige, unsympathische Großonkel, der sich manchmal im Imbiss blicken ließ. Was auch passierte, sie durfte kein Sterbenswort sagen. Ihr hingegen könne Fatima vertrauen.
    Und die junge Araberin vertraute ihrer weltläufigen Freundin. Sie war erleichtert, niemandem sonst von ihrer Situation erzählen zu müssen. Eine Woche später hatten sie sich einen perfekten Plan zurechtgelegt: Benni würde das Kind per Kaiserschnitt auf die Welt bringen, dann würden Arndís und er so tun, als sei es ihres.
    Sie würden den Eingriff zum frühestmöglichen Zeitpunkt vollziehen, in der 38. Woche. Das sei besser, als das Kind von einer Frau auf die Welt bringen zu lassen, die ohnehin nie seine Mutter sein würde, sagte Benni. Außerdem konnten sie auf diese Weise besser planen und vermeiden, dass die Geburt zu einem Zeitpunkt einsetzte, an dem Fatima bei ihren Verwandten war, vor denen das pummelige Mädchen ihre Schwangerschaft bis jetzt mit weiten Kleidern aus dickem Stoff hatte geheim halten können. Da es bei einer normalen Geburt immer zu Komplikationen kommen könne, wäre ein Kaiserschnitt letztlich auch für das Kind am besten, sagte Benni. Er war fest entschlossen, und sie vertrauten ihm. Diese Aufgabe schien obendrein spannend für einen draufgängerischen jungen Arzt, der nur allzu gern gefordert sein wollte. Schon lange hatte er die Einsätze des mobilen Ärzteteams von Futura nostra mit demselben Interesse verfolgt wie ein Junge die Filme von Indiana Jones – und sich während der Zeit als Assistenzarzt in der Chirurgie mit den nötigen Operationstechniken vertraut gemacht.
    Sie hoben sein Erspartes ab und mieteten ein Zimmer in einer Ecke des Hurenviertels, wo sich außer streunenden Hunden und Obdachlosen kaum jemand herumtrieb.
    Dann sterilisierten sie das Zimmer, richteten das Bett für die Operation her und tauschten die alte Klimaanlage gegen eine neue aus. Benni las alles, was er über Kaiserschnitte in die Hand bekam, während Arndís Berge von sauberen Bettlaken, Handtüchern, Schüsseln, Wasser und Verbandsmaterial anschleppte und Desinfektionsmittel und Medikamente in den spanischen Apotheken kaufte, wo man fast alles bekam. Fatima sollte ihren Cousins erzählen, dass sie zusammen mit anderen illegal eingewanderten Frauen für eine Woche eine gut bezahlte Arbeit als Beerenpflückerin außerhalb der Stadt bekommen hätte. Sie würde in dem Zimmer wohnen bleiben, während Arndís und Benni das Kind nach Tanger schmuggelten und dort bei der Französin blieben, bis das Kind alt genug war, damit sie es mit in die Berge nehmen konnten. Benni würde dann vorgeben, er habe es dort mit einer Notoperation zur Welt gebracht.
    Alles hatte funktioniert, nur eine Sache ging schief: Fatima wurde nach der Operation krank. Ihre Körpertemperatur stieg und stieg, sie übergab sich immer wieder. Benni bemühte sich nach Kräften, ihr zu helfen, doch dann fiel sie ins Koma. Sie hatten das Zimmer sterilisiert – aber Bakterien können unglaublich widerstandsfähig sein. Wenn es überhaupt eine Infektion gewesen war. Vielleicht war es auch der Blutdruck, sie wusste es nicht. Das war Bennis Aufgabe. Er musste mit ansehen, wie Fatima starb, tat alles, um ihr die Schmerzen zu nehmen, und dämpfte ihr Jammern, so dass es bei dem Stöhnen aus den Zimmern der Huren nicht weiter auffiel. Dann vergrub er ihre Leiche irgendwo zwischen Barcelona und Figueres, während Arndís mit Hera in einer gut ausgestatteten Ferienwohnung im gotischen Viertel auf ihn wartete. Einige Tage später fuhren sie nach Marokko und wohnten bei Fatimas französischer Freundin, die sich rührend um sie kümmerte, während das Kind zu Kräften kam. Von Fatimas Schicksal erzählten sie ihr nichts. Wenig später zogen sie in die Berge, um Maria und Josef zu spielen: Taten so, als hätten sie, verliebt wie sie waren, auf ihrer Reise die Zeit vergessen und wären dann davon überrascht worden, dass das Kind so früh kam.
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