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Jenseits aller Tabus

Jenseits aller Tabus

Titel: Jenseits aller Tabus
Autoren: Sandra Henke
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durch sanfte grüne Hügel, und hier und da fuhr sie durch kleine Ortschaften, die aus nicht mehr als einem oder zwei Häusern bestanden. Die Sonne schien, und am blauen Himmel war nicht ein Wölkchen zu sehen. Der perfekte Tag. Während Coco die Landschaft mit ihren Farben in sich aufsaugte, schob sich Xaviers Gesicht in ihre Erinnerung. Seit fünf Jahren war sie seine Vertraute, sein Schatten bei allem, was er tat. Und ja, wenn sie ehrlich zu sich war, dann war sie auch einmal in ihn verliebt gewesen. Ganz am Anfang. „So, wie es sich für eine ‚gute Assistentin‘ gehört“,dachte sie schmunzelnd.
    Sie mochte seine Art, mit Menschen umzugehen, wie er sich für sie und ihre Werke begeistern konnte. Mit kindlichem Enthusiasmus saugte er alles Neue in sich auf, und wenn ihn einmal etwas begeistert hatte, dann war er kaum davon loszueisen. Es hatte lange gedauert, bis Coco ihn durchschauen konnte, seine kleinen Geheimnisse entdeckte. Wie etwa, dass er der schludrigste Mensch war, der ihr je untergekommen war. Coco liebte seine kleinen Ticks und Macken, die er doch so sehr versuchte unter dem Deckmantel des Mäzens zu verstecken. Xavier war einer der letzten Gentlemen in diesem Geschäft. Er selbst war nicht wirklich schön zu nennen. Nein, nicht einmal besonders gutaussehend: groß, schlank, ein wenig dünnhäutig und blass, und sein Bart, der an ein Porträt von Ludwig II. erinnerte, unterstrich seine eher zart und gebrechlich wirkende Gestalt. Seine Haare standen trotz guter Pflege mit wüsten Locken von seinem Kopf ab und, ob es eine Frage des Alters oder der Eitelkeit war – er ließ sich diesen Schopf nicht kürzen. Eines seiner Markenzeichen war der „genervte Griff“ in die Haare, um die Pracht auf seinem Kopf wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Sinnlos, wie Coco grinsend bemerkte. Doch diese „Macke“ ließ den Meister der schönen Künste mehr als menschlich erscheinen. Da es kaum Fotos von Xavier gab, waren die meisten Menschen, die er in seiner Galerie kennenlernte, eher negativ erstaunt denn erfreut, in ihm ihren Türöffner zur großen bunten Welt der Berühmtheiten gefunden zu haben.
    Aber die Art, wie er die Menschen umsorgte und sie sich gut fühlen ließ, machte aus ihm einen wunderschönen Menschen. Seine Stimme, sein Auftreten, seine Aufmerksamkeit – all dies formte einen Mann, der in sich ruhte und von innen heraus strahlte. Wenn es Entscheidungen zu treffen gab, war da kaum jemand, der es wagte, Xavier zu widersprechen. Sein Umfeld wusste um seine Präsenz. Als Chef einer der renommiertesten Galerien der Welt durfte er sich einige Spleens leisten. Aber jeder, der ihn kannte, nahm diese Spinnereien mit Humor und der gehörigen Portion Sympathie für diesen Mann hin. Wenn sich Xavier für eine Person interessierte, dann konnte sich dieser Jemand sicher sein, die volle Aufmerksamkeit zu erhalten. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an welchem Xavier das Interesse verlor, weil er feststellte, dass dieser Künstler eben auch nur ein Mensch und kein Gott war und somit genauso banal wie die meisten anderen auch. Eine Enttäuschung, mit der Xavier immer wieder leben musste, die ihn die Suche jedoch nicht beenden ließ.
    Am Anfang ihrer seltsamen Beziehung war Coco also von diesem Mann fasziniert gewesen. Es war so aufregend, neben ihm zu stehen und dazuzugehören. Ein Teil seiner Maschinerie zu sein. Die Form der Macht, die er über seine Künstler besaß, empfand sie als äußerst erregend. Viele Nächte lang spielte Xavier damals in ihren Träumen eine tragende Rolle. Manchen Orgasmus, den sie sich in ihrer Einsamkeit gönnte, hatte sie indirekt ihm zu verdanken. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Für sich hatte sie irgendwann festgestellt, dass sie nicht mit diesem Wirrkopf würde leben können. Seine Avancen hatten ihr geschmeichelt, doch nachgeben würde sie ihnen niemals.
    Nach einer weiteren Stunde Fahrt nahmen die Hügel noch etwas sanftere Formen an, und man konnte bereits die salzige Luft des Meeres riechen. Ein paar Möwen am Himmel begleiteten Coco während ihrer Fahrt, und in ihr breitete sich ein Glücksgefühl aus, das sie lange nicht mehr empfunden hatte. Die Straße machte eine letzte Biegung, und vor ihr lag das Hotel, viel schöner, als der Prospekt es je hätte abbilden können. Der vierstöckige Bau aus dem letzten Jahrhundert war im viktorianischen Stil gehalten, und die Front, die Coco nun in ihrer ganzen Pracht bewundern konnte, war über und über mit kleineren
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