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Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)

Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)

Titel: Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)
Autoren: Bill Mockridge , Lars Lindigkeit , Markus Paßlick
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ich die Schulaufführung meines Sohnes nicht sehen konnte. Er stand zum ersten Mal auf der Bühne, und ich saß in der »NDR Talk Show«. Er mit seinen Schulfreunden und ich mit Alice Schwarzer und Florian Silbereisen.
    Nach der Show saß ich allein auf dem Hotelbett, köpfte einen Rotwein aus der Minibar und dachte bei mir: Was um Himmels willen machst du da, Bill? Du hast die Prioritäten im Leben nicht mehr präsent! Ich wusste anscheinend nicht mehr, was wichtig und was unwichtig ist.
    Er schaute mich an und sagte: »Ich weiß genau, wovon du redest. Ich war in deinem Alter immer unterwegs. Der nächste Kunde war sooo wichtig. Der nächste Vertrag musste unbedingt unterschrieben werden. Irgendwann habe ich in der Zeitung einen Satz gelesen, der mich nachdenklich gestimmt hat: Der Mensch wird im Durchschnitt fünfundsiebzig Jahre alt.«
    Er prüfte mit schnellen Blicken meinen verschwitzten Körper. Wahrscheinlich schätzte er gerade mein Alter. Ich traute mich nicht zu fragen.
    »Fünfundsiebzig Jahre«, fuhr er fort. »Ich habe immer gerne mit Zahlen gearbeitet. Da habe ich mir Stift und Papier genommen und diese fünfundsiebzig Jahre mal zweiundfünfzig Wochen genommen. Ich kam auf die Zahl 3900. Weißt du, was das ist?«
    Ich schüttelte den Kopf. Dabei flogen einige Schweißtropfen auf sein sommerliches Leinen-Jackett. Ich ließ mir nichts anmerken. Er auch nicht.
    »3900: Das ist die Zahl der Samstage, die ein Durchschnittsmensch im Laufe seines Durchschnittslebens erlebt. Als ich die Nachricht las, war ich Ende fünfzig. Ich hatte also schon sehr viele Samstage hinter mir, eigentlich die meisten. Dann rechnete ich aus, wie viele Samstage mir noch blieben. Es waren noch genau 1004 Samstage bis zu meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag.«
    »1004 …«, stammelte ich etwas hilflos, »das ist ja, ääh, eine ganze Menge …« Zahlen sind nicht so mein Ding.
    Der alte Mann erlöste mich: »Mir ging es so wie dir, Junge. Zahlen sind zwar mein Ding, aber ich konnte mir diese 1004 nicht so richtig vorstellen. Da hatte ich eine Idee: Ich bin in die Stadt zu »Puppenkönig« gegangen, dem Spielwarenladen, und habe zu der Verkäuferin gesagt: ›Ich hätte gerne sämtliche Glasmurmeln, die sie auf Lager haben!‹ Sie schaute mich lächelnd an. Wahrscheinlich dachte sie, ich wollte mir zu Hause in der Badewanne ein Bällchenbad für Senioren einrichten. Ich habe die Glasmurmeln bekommen, zwei große Säcke. Es war wirklich nicht leicht, die nach Hause zu schleppen. Ich habe das alte Aquarium meiner Kinder aus dem Keller geholt und es in meinem Arbeitszimmer auf das Fensterbrett gestellt. Ich öffnete die beiden Säcke und habe die Glasmurmeln einzeln in das Aquarium gefüllt – genau 1004 Stück. Die restlichen Glasmurmeln verschenkte ich an die Kinder in meiner Nachbarschaft. So, Junge und jetzt kommt’s: Seit dieser Zeit nehme ich jeden Samstagmorgen, noch vor dem Frühstück, eine Glaskugel aus dem Aquarium heraus und schmeiße sie weg. Nichts rückt die Prioritäten schneller zurecht, als zu sehen, wie dein Leben Samstag für Samstag, Glaskugel für Glaskugel, weniger und weniger wird. Da bekommst du sehr schnell wieder den Blick für das Wesentliche!«
    Er stand langsam auf und lächelte mich an: »Eines muss ich dir noch sagen, bevor ich nach Hause zu meiner Frau gehe. Ich habe heute Morgen meine letzte Glasmurmel rausgenommen. Mein Aquarium ist ab heute leer.«
    Er griff in seine Hosentasche und zog eine Glasmurmel heraus. »Da ist sie: Das ist Nr. 1004! Und ich kann dir sagen, wenn der liebe Gott mir noch ein paar Jährchen vergönnt, wird das die schönste Zeit meines Lebens. Ich freue mich ab jetzt auf jeden einzelnen Tag. Denn ich habe ab heute ein überdurchschnittliches Leben!«
    Er sah mich erwartungsvoll an, aber ich bekam kein Wort heraus. Er lachte laut auf und drückte mir die Glasmurmel in die Hand. »Komm, Junge, ich schenke sie dir. Sie soll dir Glück bringen! Vielleicht sehen wir uns am nächsten Samstag. Mach’s gut!«
    Er ging mit festen Schritten den Wanderweg entlang. Er hob kurz seinen Spazierstock, der silbrige Knauf glänzte in der Morgensonne. Dann verschwand er hinter der Kreuzberg-Kirche.
    Und ich stand da – mit Nr. 1004 in der Hand.
    Ich hatte eigentlich vor, nach Hause zu gehen und den ganzen Tag an einem neuen Programm für die Springmäuse zu arbeiten. An einem Samstag. Bekloppt!
    Stattdessen bin ich zu meiner Frau ins Schlafzimmer gegangen, habe sie mit einem kurzen,
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