Jack Reacher 01: Größenwahn
ein Jahr lang jeden Tag draußen vor Floridas Küste, wie ein gekrümmter Schutzschild, und durchsuchten alle Handelsschiffe, die ihnen nicht koscher vorkamen. Das Ganze war mit großem Trara angekündigt worden. Und über ihre kühnsten Erwartungen hinaus erfolgreich gewesen. Sie hatten alles mögliche gefunden. Vor allem Drogen. Aber auch Waffen und illegale Einwanderer aus Haiti und Kuba. Die Aktion reduzierte noch Monate später und Tausende von Meilen hinter der Grenze die Verbrechensrate in den gesamten Staaten. Ein Riesenerfolg.
Also wurde die Aktion abgeblasen. Sie war extrem teuer. Der Etat der Küstenwache wies ein ernsthaftes Defizit auf. Der Präsident sagte, er könne den Etat nicht erhöhen. Tatsächlich müsse er ihn kürzen. Die Wirtschaft sei in einem fürchterlichen Zustand. Es gebe nichts, was er tun könne. Also mußte die ganze Aktion innerhalb von sieben Tagen eingestellt werden. Der Präsident versuchte, der Sache wie ein Staatsmann zu begegnen. Die großen Tiere bei der Exekutive waren sauer, weil sie es für sinnvoller hielten, Verbrechen zu verhindern, anstatt sie zu bekämpfen. Die Insider in Washington hingegen waren glücklich, weil fünfzig Cents für einen Streifenpolizisten sichtbarer investiert sind als zwei Dollar auf einem Ozean, der zweitausend Meilen von den Wählern entfernt ist. Die Argumente flogen hin und her. Und auf den verdammten Photos tat der Präsident alles staatsmännisch mit einem Lächeln ab und sagte, da könne er leider nichts machen. Ich hörte auf zu lesen, weil ich immer wütender wurde.
Um mich zu beruhigen, ließ ich Musik durch meinen Kopf ziehen. Den Refrain von ›Smokestack Lightning‹. Die Version von Howling Wolf hat einen wunderbaren erstickten Schrei am Ende der ersten Textzeile. Dort heißt es, daß du eine Zeitlang auf den Schienen unterwegs sein mußt, um den Blues des Reisenden zu verstehen. Falsch. Um den Blues des Reisenden zu verstehen, mußt du irgendwo eingesperrt sein. In einer Zelle. Oder in der Army. Irgendwo in einem Käfig. Irgendwo, wo der Rauch aus dem Schornstein eines Zuges aussieht wie das ferne Signal einer unmöglich zu erreichenden Freiheit. Ich lag da mit meinem Mantel als Kopfkissen und lauschte auf die Musik in meinem Kopf. Am Ende des dritten Refrains schlief ich ein.
Ich wachte auf, als Baker anfing, gegen die Gitterstäbe zu treten. Sie dröhnten dumpf. Wie eine Trauerglocke. Baker stand dort zusammen mit Finlay. Sie sahen auf mich herunter. Ich blieb, wo ich war. Ich fand es bequem auf dem Boden.
»Wo, sagten Sie, waren Sie letzte Nacht gegen vierundzwanzig Uhr?« fragte Finlay.
»Ich stieg in Tampa in einen Bus«, sagte ich.
»Wir haben einen neuen Zeugen«, sagte Finlay. »Er hat Sie beim Lagerhaus gesehen. Letzte Nacht. Herumlungern. Gegen Mitternacht.«
»Völliger Blödsinn, Finlay«, sagte ich. »Unmöglich. Wer zum Teufel ist dieser neue Zeuge?«
»Der Zeuge ist Chief Morrison«, sagte Finlay. »Der Polizeichef. Er sagt, er war sicher, Sie schon mal gesehen zu haben. Jetzt hat er sich erinnert, wo das war.«
KAPITEL 3
Sie brachten mich mit Handschellen zurück zum Rosenholzbüro. Finlay setzte sich an den großen Schreibtisch vor den Fahnen unter der alten Uhr. Baker brachte einen Stuhl ans Ende des Schreibtischs. Ich saß Finlay gegenüber. Er nahm den Kassettenrecorder hervor. Zog die Kabel heraus und steckte sie ein. Stellte das Mikrophon zwischen uns. Testete es mit seinem Fingernagel. Fertig.
»Die letzten vierundzwanzig Stunden, Reacher«, sagte er. »Im Detail.«
Die zwei Polizisten platzten fast vor unterdrückter Spannung. Ein schwacher Fall war plötzlich nicht mehr schwach. Der Nervenkitzel eines möglichen Sieges ergriff sie. Ich kannte die Symptome.
»Ich war in Tampa letzte Nacht«, sagte ich. »Stieg um Mitternacht in den Bus. Zeugen können das bestätigen. Ich verließ den Bus heute morgen um acht Uhr dort, wo sich der Highway und die Landstraße kreuzen. Wenn Chief Morrison behauptet, er hätte mich um Mitternacht gesehen, dann irrt er sich. Zu dieser Zeit war ich ungefähr vierhundert Meilen entfernt. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Überprüfen Sie es.«
Finlay starrte mich an. Dann nickte er Baker zu, der eine ockerfarbene Akte öffnete.
»Das Opfer ist noch nicht identifiziert«, sagte Baker. »Kein Ausweis. Keine Brieftasche. Keine besonderen Kennzeichen. Weiß, männlich, vielleicht vierzig, sehr groß, kahlgeschorener Kopf. Die Leiche wurde draußen um acht Uhr morgens
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