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Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt

Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt

Titel: Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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vergangener Kulturen, ihr Geheimnis oft nicht von allein mitteilen. Ihre Einordnung muss daher entweder durch andere Hinweise bestätigt werden oder rein spekulativ erfolgen. Die vorgeblichen Beweise für die Existenz eines Matriarchats waren in der Tat freihändig mit der richtigen Bedeutung zu füllen, mögen die durchaus schlüssigen Erklärungen viele Laien auch überzeugt haben.
    Die »Beweisstücke« lassen sich in wenige Gruppen unterteilen. Quer durch Europa kann man in zahlreichen frühgeschichtlichen Museen kleine Venusstatuetten aus Kalkstein, Lehm oder Elfenbein bestaunen, die aus der Altsteinzeit stammen und mehrere Zehntausend Jahre alt sind. Die Fundorte erstrecken sich von Frankreich bis nach Sibirien, wobei die westeuropäischen Frauenfiguren eher dick, die sibirischen eher dünn geraten sind. Am berühmtesten ist die 1908 gefundene Venus von Villendorf in Oberösterreich, allen gemeinsam aber ist die unverwandte Darstellung vor allem von Scham und Vulva. Sie werden als Kunstobjekte einer matriarchalischen Gesellschaft interpretiert, mal als Verherrlichung des weiblich-kosmischen Prinzips, mal als Muttergöttin. Nur: Dass steinzeitliche weibliche Figuren der Fruchtbarkeit huldigen, ist so naheliegend, wie es ein bestimmendes weibliches Prinzip eben nicht beweist. Selbst die Annahme, es handele sich um Abbildungen von Göttinnen, ist weder Beweis für eine große Muttergöttin – fast alle Religionen verehren Göttinnen – noch für die Abwesenheit männlicher Gottheiten. Nimmt man die Bildquellen unserer Zeit, könnte man in Unkenntnis des Drumherums bezüglich der Bedeutung der Frau auf eine ähnlich gewagte Auslegung verfallen. Ebenso gut könnte es sich also bei den Venusfigurinen um frühe pornographische Darstellungen handeln, was in der Forschung durchaus als möglich gilt.
    Ähnlich steht es mit den Megalithgräbern als markante Überbleibsel der Jungsteinzeit. Sie als Darstellungen der weiblichen Vulva anzusehen, ist zwar eine mögliche Interpretation, aber keineswegs eine zwingende – und selbst dann wäre es noch kein Beweis für die Existenz eines Matriarchats oder eines vorherrschenden weiblichen Prinzips. Insgesamt stützt sich die Matriarchatsforschung auf Symbole, die sich durchaus auch ganz anders als im Sinne einer vorzeitlichen frauengestützten Gesellschaft interpretieren lassen. Selbst das Vorzeigeobjekt der Matriarchatsforschung, die jungsteinzeitliche Ansiedlung Çatalhöyük in Zentralanatolien, hält einer kritischen Beurteilung nicht stand. Der englische Archäologe James Mellaart, der in den 1960er-Jahren erste Ausgrabungen durchführte, erkannte darin eine matriarchale Siedlung ohne ausgeprägte Rangunterschiede, in der die Große Göttin verehrt wurde, weil sie den Menschen den Weg in Sesshaftigkeit und Ackerbau gewiesen habe. Aber auch er interpretierte überaus eigenwillig und offenbar so, wie es ihm zupass kam, denn seine Beschreibung des Lebens in Çatalhöyük ist erkennbar darauf ausgerichtet, matriarchalische Strukturen und einen weiblichen Fruchtbarkeitskult ausmachen zu können. Die Freiburger Archäologin Juliane Hummel nannte die Vorstellung von einer matriarchalischen Siedlung Çatalhöyük »ein hohles Wunschgebilde«, das auf Spekulationen beruht. Trotzdem sind Mellaarts Interpretation nicht nur begeisterte Matriarchatsfans gefolgt, sondern auch mancher Fachkollege. Dasselbe gilt für eine angebliche matriarchalische Gesellschaft im Kreta der Bronzezeit, die schon Bachofen ausgemacht hatte. Doch der wichtigste Vertreter für das kretische Matriarchat war Arthur Evans, verdienter britischer Archäologe und erbitterter Konkurrent des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann. Er grub seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Palast von Knossos aus und gilt als Entdecker der minoischen Kultur auf Kreta. Bei allem Verdienst tat er der Wissenschaft mit seinen eigenwilligen Interpretationen, die bis heute als Nachweis eines Matriarchats auf der Mittelmeerinsel immer wieder herangezogen werden, keinen guten Dienst, denn auch seine Auslegungen sind überaus subjektiv. Und was schließlich die Vorstellung einer zutiefst friedlichen, gewaltlosen Gesellschaft betrifft, so steht dem ein reicher Fundus an Steinzeitskeletten entgegen, die eindeutige Gewaltspuren aufweisen.
    Seriös betriebene Archäologie konnte also einen Schlüssel zum Nachweis des Matriarchats bislang nicht liefern, aber auch die Anthropologie und die Ethnologie helfen nicht weiter. Als weiteren Beweis der
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