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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse
Autoren: Martha Grimes
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ich war derjenige, der immer das größere Stück vom Kuchen abbekam. Harvey hat sehr viel Zeit und Energie darauf verwendet, sich zu beweisen, und ich bin sicher, diese fixe Idee Marlowe und Shakespeare betreffend zielte in dieselbe Richtung.» Er verkündete dies ohne großes Interesse für Harvey oder Harveys Theorie und mit tonloser Stimme, während sein Blick über die graubraunen Wände und die trostlose Einrichtung der Cafeteria glitt.
    Vielleicht wird man an der Universität so, dachte Jury. «Haben Sie Ihren Bruder oft gesehen, Mr. Schoenberg?»
    Jonathan schüttelte den Kopf. «Selten.»
    «Aber Sie wohnten doch nicht weit auseinander.»
    «Das ist richtig.»
    «In London haben Sie sich jedenfalls getroffen.»
    Schoenberg hob abrupt den Kopf. «Na und? Ich komme mindestens einmal im Jahr hierher, meistens im Sommer.» Er warf seinen Paß auf den Tisch und fuhr ungerührt fort: «Vermutlich wollte er mir sämtliche Beweise zeigen, die er gesammelt hatte.» Er lächelte frostig. «Oder mich damit bloßstellen. Aber in Anbetracht der jüngsten Ereignisse treten Harveys Theorien über Marlowe und Shakespeare ja wohl ziemlich in den Hintergrund – ich meine die Morde an den Mitgliedern dieser Reisegruppe.»
    Er warf Jury einen Blick zu, der zu besagen schien, daß dieser seine Zeit mit Nichtigkeiten vergeudete.
    Da Jury vorgehabt hatte, den Paß zu verlangen, stellte er sich vor, daß Schoenberg meinte, er hätte ihm etwas voraus. Er nahm den Paß zur Hand und blätterte ihn durch. Die Visa waren in den letzten fünf Jahren fast immer zur selben Zeit ausgestellt worden. Trotz allem, was er zu Lasko gesagt hatte, sah der Paß ganz echt aus. Er gab ihn zurück.
    «Ich nehme an, Harvey hat Ihnen von den Eigenarten dieses Killers berichtet.» Jury zog seine Kopie des Gedichts aus der Tasche und gab sie Schoenberg. Die betreffende Strophe hatte er angestrichen. «Sergeant Wiggins sagte, Sie hätten das Gedicht erkannt.»
    «‹Ein goldner Schimmer in der Luft› … natürlich. Es ist von Nashe. Allein diese Zeile ist schon sehr berühmt.»
    «Er schrieb das Gedicht, als die Pest wütete.»
    Jonathan stieß wieder dieses kurze, überlegene Lachen aus. «Ja, ich weiß.»
    Jury wartete vergeblich, daß Schoenberg fortfahren würde. Er ließ sich das Gedicht wiedergeben und steckte es ein.
    Schoenberg war ungefähr der frostigste Typ, mit dem er jemals Kontakt gehabt hatte. Oder vielmehr keinen Kontakt. Er wurde aus dem Mann einfach nicht schlau.

32
    «Armer Harvey», sagte Melrose. «Der verrückte Kerl fing an, mir ans Herz zu wachsen.» Mit einem fast schon nostalgischen Gefühl hatte er Jury und Wiggins von ihren Exkursionen nach Deptford erzählt. Er schob die zusammengehefteten Seiten, in denen er gerade las, beiseite. «Bringt das die Theorie von den schönen Damen nicht ins Wanken?»
    «Nett, daß Sie mich daran erinnern», sagte Jury und rieb sich die Augen und lehnte sich auf seinem Stuhl in Plants Salon im «Brown’s» zurück. Vor den drei Männern – Jury, Plant und Wiggins – lag ein Computerausdruck, den ein äußerst frustrierter Computerexperte des New Scotland Yard Harvey Schoenbergs widerstrebendem Ishi abgetrotzt hatte. Schoenberg hatte während seiner Reise mehr als sechzig Seiten eingegeben und vermutlich weitaus mehr zu Hause zurückgelassen.
    Jury schob seinen Stapel Papiere beiseite und sagte: «Ich habe – das Ganze dreimal durchgelesen und keinen einzigen Hinweis gefunden.»
    «Das hab ich nicht gewußt», sagte Wiggins.
    «Was?» fragte Jury.
    «Wie abstoßend diese öffentlichen Hinrichtungen waren. Er spricht davon, wie die Leute sich an den letzten Zuckungen der Verurteilten ergötzten. Sie haben sogar den Henker aufgefordert, das Herz herauszuschneiden.» Wiggins sah unwohl aus. «Der Henker schlitzte sie noch bei vollem Bewußtsein auf, dann schnitt er ihnen das – ich meine nur, Sir, wie kann jemand noch am Leben sein, wenn –»
    «Versuchen Sie es sich lieber nicht vorzustellen, Wiggins», sagte Jury düster.
    Melrose hatte gerade die letzte Seite seiner Kopie gelesen und sagte: «Jedenfalls ist die Welt etwas zivilisierter geworden, Sergeant Wiggins. Heutzutage läuft der Mob nur bei Verkehrsunfällen und Krankenwagen zusammen.»
    «Ich würde das, was Schoenberg oder den anderen zugestoßen ist, nicht unbedingt ‹zivilisiert› nennen», meinte Wiggins hartnäckig. Krankheit, Störung, Gebrechen – damit konnte er es nicht abtun. «Und damals, zu Marlowes Zeiten, die Pest.
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