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Inselsommer

Inselsommer

Titel: Inselsommer
Autoren: Gabriella Engelmann
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Nachmittag, als ich Vincents fünfjährige Tochter Lilly zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war im Kindergarten hingefallen und hatte sich das Knie und die Stirn blutig geschlagen. Vincent war blass geworden, als er den Anruf der Kita-Leiterin erhalten hatte, und war aus der Galerie gestürzt, um Lilly abzuholen. Da er eine Stunde später einen wichtigen Termin bei ArtFuture hatte, nahm er Lilly kurzerhand mit in die Galerie. Ich war sofort dahingeschmolzen, als ich die Kleine sah. Sie hatte ein dickes, pinkfarbenes Pflaster auf der Stirn, und ihre Strumpfhose war aufgerissen. Die dunkelblonden Locken standen wirr nach allen Seiten ab, und ihr Gesichtchen war vor Aufregung gerötet.
    »Du brauchst dringend etwas Neues zum Anziehen«, hatte ich zu ihr gesagt und Vincent vorgeschlagen, eine neue Strumpfhose für Lilly zu kaufen. Die Kleine war vollkommen verzückt, als ich eine halbe Stunde später mit einer nagelneuen Packung in ihren Lieblingsfarben Rosa und Lila wiederkam.
    Außerdem hatte ich ihr noch einen kleinen Teddy vom Kaufhaus um die Ecke mitgebracht, der sie aufmunterte und sie bald darauf ihren Schrecken vergessen ließ. Von diesem Tag an waren wir Freundinnen, und ich freute mich jedes Mal, wenn sie in die Galerie kam und ich Gelegenheit hatte, mit ihr zu spielen.
    Mein Herz wurde schwer, als ich an die Kleine dachte.
    Wie gern hätte ich eine Tochter wie sie gehabt!
    Weil ich nicht in trübsinnige Gedanken versinken wollte, beschloss ich mich abzulenken. Egal, wie schlecht das Wetter war, ich würde jetzt rausgehen und meine Umgebung erkunden.
    Als ich das Hotel verließ, schenkte mir der Rezeptionist ein mildes Lächeln und rief mir hinterher:
    »Ein Schirm wird Ihnen leider nicht viel nützen!«
    Ich bog die Strandstraße in Richtung Meer ab, passierte das Kino schräg gegenüber, Souvenir-Shops, das für seine Torten und Pralinen bekannte Café Wien und Teeläden, während eine Böe mit grimmiger Wut an meinem Knirps zerrte. Nachdem er sich zweimal umgeklappt hatte, gab ich auf, zog mir die Kapuze meiner leuchtend roten Daunenjacke tief ins Gesicht und stapfte entschlossen weiter.
    In der Kabine zum Strandübergang saß ein älterer Herr und winkte ab, als ich ihm meine Kurkarte zeigen wollte. Wenn es nach ihm ginge, säße er heute wahrscheinlich gar nicht hier.
    Magisch angezogen vom Anblick des Meeres, ignorierte ich den Musikpavillon in Form einer Muschel an der Strandpromenade, die bei schönem Wetter zahllose Besucher anlockte.
    Mein Ziel war das graugurgelnde Wasser, dessen Wellen sich am Strand brachen und kleine Schaumkronen hinterließen.
    Ich nutzte den Rückenwind und ging am Hotel Miramar vorbei nach links, um möglichst ungestört zu sein.
    Getreu dem Motto: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung«, gingen erstaunlich viele am Strand spazieren.
    Ich setzte meinen Weg fort, bis ich an einer Reihe verwitterter Buhnen vorbeikam. Traurig ragten die dunklen Holzköpfe aus dem Wasser und trotzten tapfer dem Wetter. Ein typisches, immer wieder beeindruckendes Motiv, das zahlreiche Postkarten und Kalender schmückte. Wie sehr hatte ich diese Aufnahmen immer gemocht, die den Wunsch in mir erweckt hatten, endlich auf die Nordseeinsel zu fahren!
    Ein Stück weiter tauchte ein Bollerwagen auf, gezogen von einem kleinen, etwa siebenjährigen Mädchen, das an der Hand seiner Mutter ging und fröhlich plapperte.
    Im Wagen saß eine Armada von Stofftieren.
    Ich schaute den beiden wehmütig hinterher, aber ich wollte mich von diesem entzückenden Anblick nicht aus der Fassung bringen lassen.
    Genug vergebens gehofft.
    Genug getrauert!
    »Mit Ihrer roten Jacke sind Sie bei dem heutigen Mistwetter eine absolute Augenweide«, hörte ich auf einmal jemanden sagen und glaubte zunächst, mich getäuscht zu haben. Als ich den Kopf hob, um zu sehen, ob ich tatsächlich gemeint war, blickte ich in die warmen, dunklen Augen eines älteren Herrn, der über das ganze Gesicht strahlte. »Die meisten hier tragen Dunkelblau, Dunkelgrau oder Schwarz. Gott sei Dank machen Sie diesen Tag ein wenig bunter.«
    »Ich fühle mich immer besser, wenn ich etwas Farbenfrohes anhabe«, erwiderte ich in Erinnerung an meine frühere Vorliebe für eine Skala zwischen Grau und Schwarz. »Sie selbst leuchten aber auch!«
    Der Fremde trug zwar einen dunkelblauen Wollmantel, aber kombiniert mit einem buntgemusterten Schal.
    »Den hat mir eine liebe Freundin geschenkt, und ich halte ihn in Ehren. An einem solchen Tag wärmt
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