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Inseln im Netz

Titel: Inseln im Netz
Autoren: Bruce Sterling
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mit seinem persönlichen Archetyp gehabt. Bald hat jeder Knallkopf Visionen. Massenhysterie, kollektive Bewußtlosigkeit. Dummes Zeug. Aber wenigstens modern. Es ist das neue Jahrtausend.« Er schien auf eine unklare Weise erfreut.
    »Es ist mystischer Unsinn«, sagte Laura. »Wenn es wirklich deine Optima Persona gewesen wäre, hättest du etwas bauen sollen, nicht? Und nicht Reklame für ein FKK-Nirwana machen.«
    David machte ein einfältiges Gesicht. »Es war bloß ein Traum. Erinnerst du dich dieser Dokumentation am letzten Freitag? Der Mann, der seine O.P. die Straße entlanggehen sah, in seinen Kleidern, mit seiner Kreditkarte? Um es dahin zu bringen, habe ich noch viel vor mir.« Er bemerkte ihren Knöchel und schrak auf. »Was hast du mit deinem Bein gemacht?«
    Sie sah auf ihren Knöchel. »Ich stolperte über ein Stück Wirbelsturmschrott. Im Sand vergraben. Ein Videogerät.«
    Loretta erwachte, und ihr winziges Gesicht dehnte sich in einem gewaltigen, zahnlosen Gähnen.
    »Wirklich? Dann muß es seit dem großen Wirbelsturm von 02 sein. Zwanzig Jahre! Himmel, du könntest Wundstarrkrampf bekommen!« Er gab ihr den Säugling und holte Desinfektionsmittel und Verbandzeug aus der Hausapotheke im Bad. Auf dem Rückweg drückte er einen Konsolenknopf. Einer der flachen Bildschirme an der Wand flackerte auf.
    David setzte sich mit gelenkiger Anmut auf den Boden und nahm Lauras Fuß in den Schoß. Er schnürte ihr den Schuh auf und warf einen Blick auf die Ablesung. »Eine ziemlich schlechte Zeit. Du mußt gehinkt haben.«
    Er zog ihr die Socke vom Fuß. Laura hielt das zappelnde Baby an der Schulter und starrte zum Bildschirm, lenkte sich ab, während David die abgeschürfte Stelle betupfte.
    Der Bildschirm zeigte Davids Weltregierungsspiel - eine globale Simulation. Das Weltregierungsspiel war als ein Voraussageinstrument für Entwicklungsbehörden erfunden worden, aber eine vereinfachte und aufgemöbelte Fassung hatte ihren Weg auf den Markt gefunden. David, der dazu neigte, sich plötzlich für etwas zu begeistern, spielte es seit Tagen.
    Lange Streifen der Erdoberfläche zogen in einer simulierten Satellitenansicht über den Bildschirm. Städte leuchteten grün, wenn sie gesund waren, und rot, wenn Unfriede und soziale Auflösung herrschten. Verschlüsselte Ablesungen liefen über den unteren Rand des Bildschirms. Afrika war ein einziges Durcheinander. »Es ist immer Afrika, nicht?« sagte sie.
    »Ja.« Er verschloß eine Tube mit antiseptischem Gel. »Hat nicht viel geblutet. Es wird verschorfen.«
    »Klar.« Sie stand mit Loretta auf und verbarg den Schmerz um seinetwillen. Das unangenehm gespannte Gefühl verging, als das Desinfektionsmittel zu wirken begann. Sie lächelte. »Ich brauche eine Dusche.«
    Davids Uhrtelefon piepte. Es war Lauras Mutter, die von ihrem Gästezimmer im Ferienheim unten anrief. »Gomen nasai, ihr alle! Wie wär's, wenn ihr Oma helfen würdet, ein Frühstück zusammenzubringen?«
    David war erheitert. »Ich komme gleich hinunter, Margaret. Iß nichts, wo das Fell noch dran ist.« Sie gingen hinauf zu ihrem Schlafzimmer.
    Laura gab ihm das Baby und verschwand im Bad.
    Sie konnte nicht verstehen, warum David ihre Mutter mochte. Er hatte auf ihrem Recht bestanden, ihre Enkelin zu sehen, obwohl Laura ihre Mutter seit Jahren nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte. Der Aufenthalt seiner Schwiegermutter bereitete David ein naives Vergnügen, als könne ein Besuch von einer Woche Dauer Jahre unausgesprochener Verstimmung ungeschehen machen.
    Für David waren Familienbande naturgegeben und fest, so wie es sein sollte. Seine Eltern waren in das Kind vernarrt. Aber Lauras Eltern hatten sich getrennt, als sie neun gewesen war, und sie war von ihrer Großmutter erzogen worden. Laura wußte, daß Familie ein Luxus war, eine Treibhauspflanze.
    Laura stieg in die Badewanne und zog den Duschvorhang zu. Das von der Sonne gewärmte Wasser spülte die Spannung von ihr; familiäre Verdrießlichkeiten fielen von ihr ab. Sie stieg aus der Wanne und fönte ihr Haar trocken. Es fiel von selbst in seine richtige Form - sie trug einen einfachen Haarschnitt, eine kurze Ponyfrisur. Dann betrachtete sie sich im Spiegel.
    Nach drei Monaten war die postnatale Erschlaffung größtenteils in ihrem Laufprogramm aufgegangen. Die endlosen Tage ihrer Schwangerschaft waren eine verblassende Erinnerung, obwohl ihr geschwollener Leib als Vorstellungsbild bisweilen noch in ihren Träumen spukte. Dabei war sie
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