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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Autoren: Geraldine Brooks
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überrascht von der Tatsache, dass sich jemand, der Menschen wie Caleb und Joel persönlich gekannt hatte, des Mordes an indianischen Frauen und Kindern derart brüsten konnte wie er.
    Mit dem jungen Jabez Fox, der mit seiner Rede in hebräischer Sprache auf Dudley folgte, hatte ich eher Mitleid. Auch er griff auf ein gut durchgekautes Thema zurück: ob sich nämlich menschliche Güte immer im Schönen manifestiere. Ich merkte, wie ich in Gedanken zu anderen Gelegenheiten schweifte, bei denen dieses Thema erörtert worden war, und dachte, es sei eine verpasste Chance, dass nicht Caleb dazu das Wort ergriffen hatte. Er hätte vermutlich eine sehr lebendige Auslegung des Themas zum Besten gegeben, die sich mit den sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen von Gut und Schön auseinandergesetzt hätte und damit, dass Schönheit sehr wohl im Auge des Betrachters lag. Obwohl seine Ergebnisse genauso gut oder gar besser waren als die von Fox, hatte mir Samuel gesagt, Chauncy habe es für unklug gehalten, Caleb und Joel gleich zwei von drei Reden halten zu lassen. Er sagte, Chauncy habe Caleb gebeten zu sprechen, gleich nachdem die Nachricht vom Tode Joels bekannt geworden war, doch Caleb habe abgelehnt und gesagt, er sei seelisch dazu nicht in der Lage.
    Während ich versuchte, mich auf die Redner zu konzentrieren, wanderte mein Blick immer wieder zu Caleb hinüber, der zusammen mit den anderen Absolventen auf der Ehrentribüne saß. Wie immer hielt er sich sehr gerade. Ich versuchte, ihn mit den Augen der anderen im Publikum zu sehen, die gewiss sehr neugierig auf diese junge Rothaut waren, die man aus der Wildnis geholt und so gründlich zu einem Gelehrten umgeformt hatte. Und tatsächlich war er äußerlich kaum von seinen Kommilitonen zu unterscheiden. Seine Kleidung glich der der anderen aufs Haar. Wenn überhaupt, war er sogar fast noch sorgfältiger ausstaffiert. Er war größer als alle, wie ich bereits gesagt habe, doch hatte er seine breite Brust und die kräftigen Arme eingebüßt, durch die er sich früher so deutlich von allen anderen unterschieden hatte. Auch wenn sein Haar immer noch dunkel war, hatte es etwas von seiner Dicke und seinem auffallenden Glanz verloren. Seine Haut, zwar noch immer olivfarben, war nach mehreren Jahren eines Lebens zwischen den Mauern des College um einiges heller geworden. Nur seine ohnehin schon markanten Gesichtszüge – die hohen, breiten Wangenknochen – schienen noch ausgeprägter und fremdartiger, je hagerer er wurde. Calebs Gesicht war auf das Rednerpult gerichtet, doch er wirkte sehr geistesabwesend. Ich vermutete, dass er in Gedanken bei Joel war, und wer hätte es ihm verdenken können?
    Als es langsam Zeit für das festliche Abendessen wurde, erhob sich Chauncy, um die Tafel zu eröffnen, indem er einen Segen für all die jungen Männer sprach, die nun ihre Rolle als führende Köpfe einer gebildeten Gesellschaft einnehmen würden. Der Gouverneur stand als Nächster auf, prostete in die Runde, sprach einen herzlichen kleinen Toast auf das College aus und verlieh seinem Stolz darüber Ausdruck, dass die altehrwürdigen englischen Universitäten von Oxford und Cambridge den ersten Abschluss unserer Studenten als gleichwertig mit dem ihren anerkannten.
    Das Festessen war üppig, das Fleisch saftig, und während die Becher wieder und wieder gefüllt wurden, wurde es so laut im Festsaal, dass man seinen Tischnachbarn nur verstehen konnte, wenn man sich auf fast unziemliche Weise zu ihm hinüberbeugte. Schließlich trieben mich der Lärm und die erstickende Hitze aus der Küche hinaus in den Garten, wo wenigstens die Luft kühler war, auch wenn der Lärm der Feiernden immer noch deutlich zu hören war. Bis ich mich halbwegs erholt hatte, um wieder hineinzugehen, waren die gelehrten Dispute bereits in vollem Gange. Obwohl ich es kaum erwarten konnte, Caleb zu hören, wusste ich, dass er sich auch bei so verstaubten Themen wie dem Verhältnis von Philosophie und Philologie bravourös schlagen würde. Und tatsächlich wurde an diesem Nachmittag nichts gesagt, das nicht bereits Dutzende von Malen an ebendiesem Ort geäußert worden war, nur dass es heute gelegentlich von launigen Kommentaren aus einem Publikum unterbrochen wurde, welches bereits einiges über den Durst getrunken hatte. Caleb schlug sich wacker; ich sah, wie Chauncy jedes Mal, wenn er sprach, strahlte, denn sein Latein war flüssig und seine Bemerkungen stets geistreich und angebracht. Ein oder zwei Mal ertappte ich
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