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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman
Autoren: Colleen McCullough
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Geistliche eine unverständliche Predigt über das sündige Fleisch hielt. Der Anstaltsleiter saß immer noch mit leeren Augen da, als der Geistliche seinen Vortrag beendet hatte, und die Waisen wagten nicht sich zu rühren. Die strengen Aufseherinnen ließen die Augen wachsam durch die Reihen streifen und passten genau auf, dass es niemand am gebührenden Ernst mangelte. Und der Anstaltsleiter
saß da und starrte in die Ferne, als hätte er eine Vision von unbestimmter Bedeutung. Er bewegte sich erst, als ihn der Geistliche zaghaft an der Schulter fasste, und fiel einfach nach vorne auf die Steinplatten der Kapelle. Dort blieb er liegen, eine formlose Masse wie die mit Sand gefüllten Strümpfe, mit denen die Insassen geschlagen wurden, damit man keine Wunden sah.
    Bewege dich, Richard, bitte! Doch Richard bewegte sich nicht. Die Zeit verrann, und das Kind in seinem Arm schlief selig. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke: Er war tot. Die Wucht des Gedankens zwang sie in die Knie. Scheppernd fiel der Eimer zu Boden, und das Wasser lief aus. Dann war wieder alles still. Und Richard rührte sich immer noch nicht. Er war tot!
    »Richard!«, schrie sie. Sie sprang auf und stürzte zu ihm.
    Ihr Schrei riss ihn aus seiner Versenkung. Im selben Augenblick war sie schon bei ihm, rüttelte weinend an seinen Schultern und fasste nach seiner Brust:
    »Kitty, was ist denn los?«
    Kitty weinte hemmungslos. Wahre Sturzbäche liefen ihr über die Wangen, sie war völlig außer sich. Kate schloss sich ihrer Mutter sofort an und begann laut zu brüllen. Richard war völlig durcheinander. Zwei offenbar verrückt gewordene weibliche Wesen klammerten sich an ihn. Er stand auf und legte Kate in ihre Wiege, wo sie empört weiterbrüllte. Kitty setzte er in den Lehnstuhl am Ofen. Sie schluchzte, als sei ihr Herz gebrochen. Jetzt half nur noch Rum. Behutsam hielt Richard Kitty den Becher an die Lippen.
    »Ach Richard, ich dachte, du seist tot!« Sie hustete, und Wasser lief ihr aus Augen und Nase. »Ich dachte, du seist tot! Tot!« Sie schlang die Arme um ihn, drückte das Gesicht an ihn und weinte erneut.
    »Ich bin doch nicht tot, Kitty.« Er löste sich aus ihren Armen, half ihr auf, setzte sich selbst auf den Stuhl und nahm Kitty auf den Schoß. Dann wischte er ihr mit dem Saum ihres Kleides, dem einzigen verfügbaren Taschentuch, über Augen, Nase, Wangen, Kinn und Hals. Der Tränenstrom hatte den oberen Teil des Kleides völlig durchnässt. »Meine liebe Kitty, siehst du jetzt, dass ich nicht tot
bin?« Er lächelte zärtlich. »Sonst hätte ich dich jetzt nicht auf den Schoß nehmen können. Aber es ist natürlich schön zu wissen, dass man so vermisst wird. Hier, nimm noch einen Schluck.«
    Kate brüllte in ihrer Wiege immer lauter, aber sie würde über den Schrecken schneller hinwegkommen als Kitty. Deshalb wandte Richard nur den Kopf und rief streng: »Hör auf zu schreien, Kate! Schlaf jetzt!« Sehr zu seiner Überraschung verstummte das Geheul seiner Tochter augenblicklich. Eine wohl tuende Stille kehrte ein.
    »Richard, ich dachte wirklich, du seist tot wie damals der Leiter des Armenhauses, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen! Du warst tot, dabei hattest du mich so sehr geliebt, und ich habe dich immer nur verletzt und zurückgewiesen, und dann war es zu spät, um dir zu sagen, dass ich dich liebe. Ich liebe dich, wie du mich liebst, mehr als das eigene Leben. Ich dachte, du seist tot, und ich wusste nicht, wie ich ohne dich leben sollte! Ich liebe dich, Richard. Ich liebe dich!« Richard schob ihr die Haare aus der Stirn und trocknete noch einmal die Tränen ab. »Das macht mich sehr glücklich«, sagte er leise. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich weiß, du hast viel geweint, aber warum bist du so nass?«
    »Ich habe den Wassereimer fallen lassen. Küss mich, Richard! Zeig mir, dass du mich liebst, und ich zeige dir, dass ich dich liebe!«
    Liebe, die erwidert wird, das entdeckten sie jetzt, verwandelte die Lippen in die zarteste denkbare Trennwand zwischen Körper und Geist. Ab jetzt, dachte Richard, brauche ich nichts mehr vor ihr geheim zu halten. Ich kann ihr alles sagen. Kitty hat erfahren, wie das ist, wenn das Herz zu klingen beginnt und die Seele Flügel bekommt.
    An Kates erstem Geburtstag, dem 15. Februar 1793, kam Stephen zu Besuch. In der Hand hielt er ein Paket.
    Doch es war nicht das Geschenk, das Richard, Kitty und das Kind staunen ließ, sondern die imposante Uniform des frisch gebackenen
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