Insel der Schatten
Schluck Tee, der warm und tröstlich schmeckte. »Ist denn überhaupt noch irgendetwas auf?«
»Tja … der Lebensmittelladen, die Weinbar auf der Hauptstraße, das Lokal, wo sich alle Welt zum Frühstück und Mittagessen trifft, und ein kleines Restaurant auf der anderen Seite der Insel. Dann noch Jonahs Café und …ja, die Bücherei ist natürlich auch noch geöffnet. Aber ich fürchte, das war’s dann auch schon.«
»Das ist mehr, als ich erwartet hätte.«
Mira bediente sich mit Käse und Crackern. »Und was führt Sie ausgerechnet während der Novemberstürme auf unsere kleine Insel?«
William Archer hatte mich ausdrücklich angewiesen, mit niemandem über den wahren Grund meiner Reise zu sprechen. Doch nach dem etwas frostigen Empfang wirkte Mira so freundlich und herzlich, dass …
Doch andererseits wusste Mr. Archer, dass ich in dieser Pension wohnte. Er hatte sie empfohlen und das Zimmer reserviert. Wäre er der Meinung gewesen, ich könne Mira ins Vertrauen ziehen, dann hätte er das gesagt. Er hatte auf ›Ereignisse‹ angespielt, Begebenheiten, die um die Zeit herum geschehen waren, als mein Vater mit mir die Insel verlassen hatte, und die die Leute, die damals hier gelebt hatten, bis heute nicht vergessen hatten.
Ich beschloss, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um herauszufinden, ob Mira auch zu ihnen gehörte. Sie war die einzige Pensionswirtin auf der Insel, die jetzt noch Gäste aufnahm, und wenn sie mich vor die Tür setzte, weil ich behauptete, Madlyn Cranes vermeintlich verstorbene Tochter zu sein, stand ich ohne ein Dach über dem Kopf da.
»Ich muss einen Anwalt, William Archer, in einer juristischen Angelegenheit konsultieren.«
Sie sah mich an. Blanke Neugier funkelte in ihren Augen. Ganz offensichtlich brannte sie darauf, mehr aus mir herauszubekommen. »Ach so, Entschuldigung, das geht mich nun wirklich nichts an. Das ist eben der Fluch der Wirte – wir neigen dazu, unsere Gäste auszufragen.«
»Kein Problem«, versicherte ich ihr, und dann fuhr ich doch unvorsichtigerweise fort: »Ich bin hier, um mit Mr. Archer über Madlyn Cranes Testament zu sprechen.«
Nun starrte mich Mira einen Moment lang mit offenem Mund an, während ich mich stumm verwünschte und fieberhaft nach einer glaubwürdigen Ausrede suchte, um mich aus dieser Situation wieder herauszuwinden.
»Oh, das tut mir aber leid«, meinte sie bedächtig. »Ich dachte, Madlyn hätte keine lebenden Verwandten mehr.«
Das hatte ich ja wirklich glänzend hingekriegt! Sollte ich bekennen, wer ich war? Oder lieber den Mund halten? »Ich bin eigentlich keine …«, begann ich etwas lahm, brach ab und unternahm dann einen neuerlichen Vorstoß. Denn lügen wollte ich auch nicht. In dieser Sache war schon viel zu viel gelogen worden. »Ich weiß im Moment selbst noch nicht viel. Mr. Archer hat mich brieflich aufgefordert, hierherzukommen, um mit ihm Madlyns Cranes letzten Willen zu besprechen. Ich selbst kenne sie überhaupt nicht, ich habe nur einige ihrer Arbeiten gesehen.«
Sie blinzelte mich an. »Sie sind der Frau nie begegnet?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, ihr je begegnet zu sein.« Das entsprach ja schon irgendwie der Wahrheit.
Mira hob die Brauen. »Sie haben zu dieser Jahreszeit eine so lange Reise unternommen, um über das Testament einer Frau zu beraten, die Sie nicht kennen.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Langsam begann es mir zu missfallen, dass sie ihre Nase so tief in meine Angelegenheiten steckte. Was hatte es sie zu interessieren, warum ich hier war? Warum nahm sie mich so ins Kreuzverhör?
»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen … Ich hatte zu Hause in der letzten Zeit viel um die Ohren, und als ich Mr. Archers Brief bekam, war ich froh, die Gelegenheit nutzen zu können, für ein paar Tage alles hinter mir zu lassen.«
Ich beobachtete, wie der Argwohn meiner Wirtin Besorgnis und auch ein wenig Gekränktheit wich.
»Tut mir leid«, erwiderte sie einlenkend. »Ich kann Sie gut verstehen. Jeder braucht einmal einen Tapetenwechsel, selbst im November.«
»Auf jeden Fall werde ich morgen sicher mehr erfahren, wenn ich mich mit dem Anwalt treffe. Ich möchte nämlich auch gern herausfinden, was hinter alldem steckt.«
Die Unterhaltung wandte sich nun anderen Themen zu, und der Rest des Abends verlief in friedlicher Atmosphäre. Immerhin hatte Mira für mich gekocht und tat alles, was in ihrer Macht stand, damit ich mich bei ihr wohl fühlte. Da durfte ich ihr
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