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In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Christiane Fux
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Vor allem seine Wärme und Freundlichkeit hatten sie für ihn eingenommen. Sie hatte sich Psychiater immer als kühle Analytiker vorgestellt, die keinerlei Gefühlsregung zeigen durften. Als sie ihm das einmal gesagt hatte, hatte er laut gelacht: »Ja, das Bild, das der alte Freud von unserer Zunft geprägt hat, werden wir wohl so schnell nicht wieder los.«
    Auch nachdem sie fortgegangen war aus Montreal, hatte sie den Kontakt gehalten und die Schwester, so oft es ging, besucht. Lépine hatte dann lange Gespräche mit ihr geführt. Sie hatte Unmengen von Fachliteratur zu dem Thema gelesen, auf der Suche nach den Gründen, auf der Suche nach Hoffnung. »Carlotta, die Fachliteratur ist nur bedingt hilfreich«, hatte Lépine immer wieder gesagt. »Jeder Fall ist anders. Jeder Fall ist etwas Besonderes.« Genau das hatte sie an ihm geschätzt, dass er wirklich versuchte zu verstehen – auch sie, Carlotta. »Sie suchen nach einem Schuldigen«, hatte er erkannt und sie eindringlich durch runde Brillengläser angeschaut. »Damit müssen Sie aufhören, sonst wird Sie das zerstören.«
    Sie hatte es nicht vermocht. Sie wusste, dass ein Elternhaus, das von Leistungsdenken geprägt war, ein guter Nährboden für eine solche Krankheit war. Das konnte sie ihrem Vater, der die Gesten seiner Zuneigung immer an Bedingungen geknüpft hatte, nicht verzeihen. Ebenso wenig wie sie ihrer Mutter verzeihen konnte, dass sie zu schwach gewesen war, ihrem Mann Paroli zu bieten, oder wenigstens auszugleichen, was er zu wenig gab. »Aber so einfach ist es nie, Carlotta«, hatte Lépine ihr zu erklären versucht. »An dem Ausbruch einer seelischen Erkrankung sind immer mehrere Faktoren beteiligt – innere und äußere.«
    Carlotta wusste, dass sie sich auf die äußeren Faktoren konzentrierte. Und dazu gehörten, mehr noch als ihre Eltern, die Mitschüler ihrer Schwester. Sie hatte mitbekommen, wie sehr Sanna unter deren Spott gelitten hatte, hatte sie oft versucht zu trösten. Wenn sie sich weinend in ihrem Zimmer verkrochen hatte, war sie die Einzige gewesen, die hereinkommen durfte. Sie hatte sich an sie gekuschelt und sie gestreichelt in der Hoffnung, sie möge aufhören zu weinen und wieder die fröhliche große Schwester werden, die sie früher gewesen war.
    Und sie hatte in der Schule oft genug selbst erlebt, wie Nathalie, Sebastian und Reinhold ihr Gift verspritzten, hämische Bemerkungen machten und die Schwester Schwabbel nannten. Sie hatte nichts davon vergessen, kein einziges Wort, keinen Namen und kein Gesicht.
    Und so hatte Lépine, als er sie angerufen hatte, um ihr vom Tod ihrer Schwester zu berichten, unwissentlich einen Prozess in Gang gesetzt, der unaufhaltsam auf den Moment der Vergeltung zusteuerte.
    »Vor fast genau einem Jahr bin ich zurück nach Hamburg gekommen. Ich bin unter Sannas Namen eingereist und habe mir unter ihrem Namen Arbeit gesucht. Anders als ich hatte sie noch die deutsche Staatsbürgerschaft. Und ich fand es dann auch passend – schließlich habe ich in ihrem Namen Rache genommen –, es auch unter ihrem Namen zu tun. Ich habe nach all jenen gesucht, die meine Schwester zerstört haben. Und ich habe sie entdeckt. Ich habe herausgefunden, dass keiner von ihnen ein besserer Mensch geworden ist. Also habe ich beschlossen, dass sie es nicht länger verdienen zu leben.
    Die Idee, sie mit Tollwut zu infizieren, kam mir schon früh. Ich fand, es sei ein passender Tod, lang und qualvoll und unaufhaltsam – genau so, wie meine Schwester gestorben ist. Und ich gebe zu, es hat mir Genugtuung bereitet, ihnen dabei zuzusehen. Sie sind gestorben, wie sie gelebt haben – wie tollwütige Hunde. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe Medizin studiert. Und bei jeder Krankheit, die mir untergekommen ist, habe ich mir ausgemalt, sie würde einen von denen treffen, die meine Schwester auf dem Gewissen haben.« Sie entblößte kurz ihre regelmäßigen Zähne. Es sieht nicht wie ein Lächeln aus, dachte Hadice. Es sieht aus wie ein Fletschen.
    »Den Putzjob am Bernhard-Nocht-Institut zu bekommen war nicht schwer. Reinigungskräfte werden dort immer gesucht – denn vielen von ihnen ist es unheimlich, zwischen all den seltsamen Geräten, Versuchsreihen und Proben zu arbeiten. Sie haben Angst, etwas kaputt zu machen, und sie haben noch mehr Angst, sich mit etwas zu infizieren.« Sie lachte kurz und freudlos auf.
    »Jedenfalls war es ziemlich einfach, mir die Viren zu beschaffen – und ich weiß, was ich zu tun habe,
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