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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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Steinhäusern, von Kuhmist gepolsterte Wege. Grün, Hügel, Hecken, alles ist winklig, geduckt und kleinteilig. Galicien. Ich verstehe die Leute nicht. Eine Sprache, die gurgelt und singt, manchmal meine ich, französische Laute herauszuhören. Gehen, gehen, gehen.
    »Ich habe gedacht«, Amanda tippt mir auf die Schulter. »Na, Amanda?« - »Könnte es sein, dass du deine Gefühle falsch interpretierst?« - »Sag, wo bist du in die Lehre gegangen? Das habe ich doch neulich erst in der Schwarzwälder Kurklinik gehört.« - »Tja, manchmal täuscht man sich in der Beurteilung von Menschen. Der erste Eindruck trügt immer!« - »Also, was meinst du?« - »Suchst du Liebe oder einen Partner?« - »Du kannst fragen.« - »Suchst du...?« - »Ich suche Liebe...« - »Aha, dann missdeutest du deine Sehnsucht.« - »Ich habe eine fast unerträgliche Sehnsucht nach der allumfassenden Liebe.« - »Wenn du Sehnsucht hast, hast du schon von ihr gekostet.« - »Die Liebe, die den Schnitt durch die Welt heilt. Die Spaltung in entweder/oder, in Gut oder Böse, Himmel oder Hölle, Schwarz oder Weiß...« - »Die Liebe, die aus dem Herzen kommt? Ja? Dann bist du gestern in die Dualitätsfalle gestolpert.« - »Wie bitte?« - »Du willst als Frau einen Mann - du bist im Reich der gespaltenen Welt. Die große Liebe, hast du selbst gesagt, umfasst auch diese Form der Liebe. Wir alle tragen diese Sehnsucht in uns - was meinst du wohl, warum du nach Santiago pilgerst?« - »Ach Amanda...«
     
    ❖
     
    Ab jetzt ist der Jakobsweg von Pilgern, Touristen und Radfahrern überschwemmt. »Zieh den Kopf ein, Bella, die nächste Welle rückt an!« - Amanda in ihrer Muschel ist strategisch geschickt platziert, ich drücke mich in ein Gebüsch, hinter eine Mauer, und dann bin ich wieder alleine in dieser herrlichen Landschaft, stundenlang.
    Triacastela. In der privaten Herberge ist noch Platz. Die Kirche heißt mich willkommen, nimmt mich hell und warmherzig in Empfang. »Wie geht es mit der Prinzessin weiter?«, fragt Amanda. »Inzwischen müsste sie vierzehn Jahre alt sein. Ich kann nicht schlafen und fühle mich nicht wohl.« In der Tat, Amanda sieht müde und faltig aus. Sie wird doch nicht...
     
    Als Leni vierzehn Jahre alt war, klopften Freier an die Tore des Schlosses und baten das Königspaar um die Hand ihrer Tochter. »Sie ist noch zu jung, wartet, bis sie achtzehn ist«, sagten die Eltern. Ein Königssohn jedoch rührte an Lenis junges Herz. Auch ihn schickten die Eltern fort. Von nun an wollte sie keinen Freier mehr sehen, sie wurde dünn und bleich und verlor ihre Lebensfreude. Die Eltern machten sich große Sorgen. Eines Tages saß Leni im Boudoir der Königin und kramte in Mutters Schubladen. Plötzlich fiel ihr das Elfenbeinkästchen in die Hand. Der Deckel sprang auf und Leni sah die übrig gebliebene Hälfte des goldenen Taufbechers. Die Mutter erschrak. Die Taufe, der goldene Becher, die ärgerliche Patin und Lenis Krankheit. Sie nahm den Becher heraus, reichte ihn der Tochter und erzählte ihr die Geschichte von ihrer Taufe. Das Mädchen wurde sehr schweigsam. Am nächsten Morgen war Leni mit dem Rest des zerbrochenen Bechers verschwunden.
     

Triacastela – Barbadelo
    Sonntag, 27. Juli
     
    Heute Nacht hat es geregnet. Alles ist nass, frisch, neu und kühl. Amanda jubelt. Eine Schnecke kriecht über den Weg. »Rette sie vor den Füßen der Pilger«, ruft Amanda, und schon habe ich Schnecke samt Haus auf die andere Seite getragen. Schlechter Laune bin ich heute, unzufrieden, verschlossen. Gestern Abend wollte ich noch einmal mit Dirk sprechen. Wir verabredeten uns, aber plötzlich hatte er mich abgehängt. Am Morgen sehe ich ihn beim Frühstücken. Er redet knapp mit harter Stimme, fährt mir über den Mund. Seltsam, denke ich.
    Was wird, wenn der Weg zu Ende ist? Wird alles beim Alten bleiben, der Überdruss, die Langeweile? Wird die ganze Anstrengung umsonst gewesen sein? Missmutig stapfe ich vor mich hin. Wo ist das täglich Neue, das Wunder? »Gib nicht auf!.« rufen meine Füße aus Santiago, »stell dich in den Strom, der von der Goldenen Stadt ausgeht.« Also ziehe ich meinen Pilgermantel enger um mich, drücke den Hut tief ins Gesicht, halte mein Schwert; rufe Santiago an oder wen auch immer, der mich hören könnte, und gehe, gehe, gehe...
    Ein Schäfer singt ein Lied, Schafe weiden friedlich. Ein sonnenbeschienenes Mäuerchen lädt zur Rast ein, dann geht einer vorbei. »Hallo«, spreche ich ihn an, »möchtest du
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