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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Autoren: John Burnside
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ausbrach. Manchmal versuchte ich mir einzureden, dass ich genau das war, denn was sich ereignet hatte, was ich fast, aber nicht ganz gesehen hatte, war schlicht unmöglich, weshalb es eine andere Erklärung dafür geben musste, auch wenn ich sie mir nicht denken konnte, etwas, das die Welt, wie ich sie kannte, mit der Welt versöhnte, von der Kyrre stets überzeugt gewesen war, dass es sie dort draußen gab, die ich aber immer nur für eine seiner Geschichten gehalten hatte.
    ***
    Es ist neun Uhr, und ich arbeite seit einigen Stunden – für mich nunmehr der normale Tagesablauf. Ich stehe früh auf, mache mir eine Tasse Kaffee und gehe nach oben in das, was einmal unser Gästezimmer war, jetzt aber mein Arbeitsraum ist. Ich nenne es nicht Atelier, weil ich es nicht dafür halte. Ich bin keine Künstlerin wie Mutter: Ich bin Kartenmacherin. Womit ich nicht abstreiten will, dass meine Karten in Galerien gezeigt werden oder dass Leute sie kaufen, nur sind sie in meinen Augen keine Kunst. Ich finde, man kann sie benutzen, wenn auch nicht auf die übliche Weise: Mit ihrer Hilfe kann man nicht von einem zum anderen Ende der Insel finden – nicht, wenn man nicht sehr, sehr langsam geht –, bei ihrem Maßstab verlöre man sich nämlich eher im Detail, als dass man seinen Weg nach Hause fände. Auch hinsichtlich der Zeit unterscheiden sie sich von anderen Karten. Natürlich hat jede Karte nur eine zeitlich begrenzte Gültigkeit: Straßen werden verlegt, Gebäude eingerissen, und was einmal Wald oder Weide war, ist jetzt ein Supermarkt oder ein Parkplatz. Karten liefern uns Schnappschüsse von Orten, Bilder, die Wochen oder Jahrhunderte gültig bleiben, je nachdem, wie detailliert sie sind, doch nichts an ihnen ist wirklich von Dauer, und es gibt Zeiten, in denen das, was sie auslassen, entscheidend ist.
    Meine Karten aber lassen nichts aus, sie sind so detailliert, dass sie sofort veralten, zumindest als Hilfsmittel der Orientierung, und in dieser Hinsicht verstehe ich sie gern als einen Kommentar dazu, wie achtlos wir die Welt sehen. Seit acht Jahren fertige ich sie jetzt auf verschiedenste Weise an: Ich begann mit der Insel und arbeitete mich von Kyrres Hytte nach außen vor, Meter um Meter, ein unendlich präzises Kartografieren von jedem Gegenstand, den ich fand, jedem Stein und Kiesel, jedem Vogelnest, auf der Suche – Quadratzentimeter um Quadratzentimeter, Koordinate um Koordinate – nach dem ungesehenen, angrenzenden Raum, in dem sich Geschichten entfalten. Die Andeutung, Ungesehenes ließe sich auf Karten markieren, klingt gewiss seltsam, aber genau das versuche ich, nicht als Fantasie, sondern als Erfindung, Erfindung im eigentlichen Wortsinn, soll heißen: Finden, was dort ist, das Gesehene und Ungesehene offenbaren, das Positive und Negative, Form und Schatten, den Schleier und das Verschleierte. Manches kann nur im Negativen gesehen werden, manches wird sichtbar nur durch die Störungen, die es hervorruft. Den genauen Ort etwa von Kyrre Opdahl oder der Huldra kann ich nur durch das rückschließen, was nicht auf der Karte ist, auf der sie selbst auch nicht vorkommen. Niemand sonst weiß dies, aber das ist nicht entscheidend. Die Leute kaufen die Karten, um sie sich an eine Wand zu hängen, als wären es Bilder; aber auch wenn sie es nicht wissen, ahnen sie doch, dass sie etwas kaufen, das man gegebenenfalls gebrauchen könnte. Und genau darauf zielen meine Karten ab: Sie versuchen, ein Gespür für die Welt jenseits des uns so trügerisch Vertrauten zu geben. Nicht um sich orientieren zu können, sondern um zu sehen. Denn es gibt zwei Arten, die Welt zu sehen, zwei Arten des Sehens. Die erste ist die, die wir von Kindesbeinen an lernen, die Art, bei der wir sehen, was wir sehen sollen, und durch die wir uns hinsichtlich der Welt einig werden, indem wir suchen und finden, was, wie uns gesagt wurde, immer schon da war. Doch es gibt noch eine andere Art, und auf die bin ich aus. Es ist die Art, wie wir sehen, wenn wir uns allein in die Welt hinauswagen, gleich einem Jungen in einer alten Geschichte, der aufs Feld geht oder an den Strand. Ist er daheim, sieht er, was er sehen soll, aber sobald er die Sicherheit des Hofes oder der Dorfschule verlässt, ist alles anders. Er versucht, weiterhin zu sehen, was er zu sehen erwartet, aber irgendwas kriecht vom Rand her in sein Blickfeld, und er beginnt zu ahnen, dass hier draußen einfach alles die Huldra sein kann. Was er weiß, jedes trügerische Detail seines
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