Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer anderen Welt (German Edition)

In einer anderen Welt (German Edition)

Titel: In einer anderen Welt (German Edition)
Autoren: Jo Walton
Vom Netzwerk:
waren wie Klauen.
    Ich wandte mich um und sah sie an. Ihre Augen waren furchterregend, wie früher schon. Ich holte tief Luft. »Lass mich in Ruhe«, sagte ich und schüttelte sie ab.
    Sie holte aus, um mich zu schlagen, und in dem Moment wurde mir klar, dass ich größer war als sie. Ich versetzte ihr einen Stoß, und sie verlor das Gleichgewicht und stürzte. Ich marschierte weiter den Hügel hinauf. Rennen konnte ich nicht – ich konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen –, aber so schnell würde ich nicht aufgeben.
    »Wie kannst du es wagen!«, sagte Liz, die noch immer am Boden lag. Sie klang völlig überrascht. Dann beschwor sie wieder Magie herauf, und wie an dem Tag, als Mor gestorben war, ließ sie grässliche Gestalten auf mich los, die gar nicht wirklich existierten. Damals hatten wir sie ignoriert, so gut wir konnten. Jetzt packte ich sie und hüllte mich in sie ein. Ohne Angst, an der sie sich laben konnten, machten sie nicht viel her.
    Ich hörte ein lautes Reißen, drehte mich um und stieß ein entsetztes Keuchen aus. Sie hatte ihre einbändige Ausgabe vom Herrn der Ringe hervorgeholt und eine Seite herausgerissen. Das Buch gehörte ihr, aber es war die erste Ausgabe, die ich gelesen hatte. Sie warf die Seite nach mir, und in der Luft zwischen uns wurde daraus ein brennender Speer. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass der Feuerschein alles in fahles Licht tauchte. Ich wich unbeholfen aus. Sie riss eine weitere Seite heraus. Ich konnte es kaum ertragen. Ich weiß, dass Bücher nur Wörter sind, und ich besitze selbst zwei Tolkien-Ausgaben, aber trotzdem wäre ich am liebsten zu ihr gestürzt, um ihr den Band wegzunehmen. Die Speere waren nicht so schlimm wie das, was sie dem Herrn der Ringe antat, und sie wären es auch nicht gewesen, wenn sie mich getroffen hätten. Wie konnte sie Bücher nur so gegen mich einsetzen? Andererseits war es wohl ziemlich naheliegend.
    Aber ich konnte das auch. Ich zog die hungrigen Ungeheuer an mich und schleuderte sie in ihre Richtung. Sie verwandelten sich in Drachen und riesige außerirdische Schildkröten und Menschen in Raumanzügen und einen Jungen und ein Mädchen in Rüstung mit gezückten Schwertern, die eine Barriere zwischen uns bildeten, mich beschützten, durch die Abenddämmerung auf sie zustürzten. Ich machte einen weiteren Schritt bergauf, von ihr weg.
    Natürlich konnte sie eine Illusion ebenso gut ignorieren wie ich.
    Immer mehr Speere schossen durch die Luft. Sie brannten nicht mehr und waren schwerer zu sehen. Offenbar hatte sie gleich mehrere Seiten auf einmal herausgerissen und nach mir geworfen. Ich blieb stehen und griff in Gedanken nach dem Muster der Welt. Die Buchseiten waren aus Papier. Papier war Holz, aus dem man nur allzu leicht Speere formen kann, aber was wollte Holz eigentlich sein? Ein Speer kam mir so nahe, dass ich spüren konnte, wie er an mir vorbeizischte, und da wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte, und lachte laut. Genau das hatte Mor gesagt, und zwar hier, vor langer Zeit. Es war nicht einmal besonders schwierig. Aus dem Speer, der ein Blatt Papier war, wurde ein Baum. Aus den anderen ebenfalls – diejenigen, die sie bereits geworfen hatte und die im Boden steckten. Für einen Moment standen sie da, mit den Wurzeln in der Erde, mit weit ausgreifenden Ästen, Eiche und Esche und Dornbusch, Birke und Vogelbeere und Tanne, große, ausgewachsene Bäume in voller Blüte. Und dann marschierten sie bergab: Der Birnamswald stieg zum Dunsinan hinab. »Die Huorns werden helfen«, sagte ich, und dabei standen mir Tränen in den Augen.
    Wenn man Bücher nur genug liebt, erwidern sie diese Liebe.
    Sie waren keine Illusion. Sie waren Bäume. Bäume sind das, was Papier einmal war und sein möchte. Fast konnte ich Liz durch die Äste erkennen. Sie tobte und schrie. Die Buchseiten verwandelten sich in Bäume, kaum dass sie sie herausgerissen hatte, und manchmal sogar schon vorher. Das Buch in ihrer Hand wurde zu einem riesigen Wirrwarr aus Efeu und Dornenzweigen, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. Die ganze Einöde, wo die Fabrik gestanden hatte, war ein Wald, mit den Ruinen der Gebäude mittendrin. Unter den Bäumen flitzten Feen umher. Natürlich! Eine Eule flog über den Teich hinweg.
    »Manchmal dauert es etwas länger, als man denkt«, sagte ich.
    Ich ging immer weiter, bergauf und fort von der Fabrik. Sie zeterte noch immer, da unten zwischen den Bäumen. Ich ging einfach davon, so schnell ich konnte, was nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher