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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis
Autoren: Jon Krakauer
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schenkte er Westerberg eine Ausgabe aus dem Jahr 1942 von Tolstois Krieg und Frieden, an der er sehr hing. Auf das Titelblatt schrieb er: »Für Wayne Westerberg von Alexander. Oktober 1990. Höre auf Pierre.« (Letzteres ist eine Anspielung auf Tolstois Helden und Alter Ego, Pierre Bezuhov - uneigennützig, rastlos suchend, unehelich geboren.) Und auch später, als McCandless den Westen durchstreifte, ließ er den Kontakt zu Westerberg nie abreißen, rief ihn an oder schrieb ihm alle ein, zwei Monate. Er ließ seine gesamte Post an Westerbergs Adresse nachsenden und behauptete gegenüber fast allen, die er noch treffen sollte, er stamme aus South Dakota.
    In Wahrheit wurde McCandless in den sorgenfreien Gefilden der oberen Mittelschicht in Annandale, Virginia, groß. Sein Vater, Walt, ist ein bedeutender Ingenieur in der Raumfahrtindustrie, der in den sechziger und siebziger Jahren bei der NASA und Hughes Aircraft hochkomplizierte Radarsysteme für die Space Shuttle und andere spitzentechnologische Projekte entwickelte. Walt machte sich 1978 selbständig und gründete eine kleine, nach einiger Zeit jedoch höchst erfolgreiche Beraterfirma, User Systems, Inc.. Chris' Mutter, Billie, fungierte als Teilhaberin und arbeitete in der Firma. Die Familie hatte nun acht Mitglieder: eine jüngere Schwester, Carine, der Chris sehr nahestand, und sechs Halbgeschwister aus Walts erster Ehe.
    Im Mai 1990 schloß Chris sein Studium an der Emory University von Atlanta ab. Er hatte Geschichte und Anthropologie als Hauptfächer studiert und stets mit hervorragenden Zensuren geglänzt. Außerdem hatte er sich dort als Kolumnist und Redakteur der Studentenzeitung The Emory Wheel hervorgetan. Als ihm in der Phi Beta Kappa, einer studentischen Vereinigung wissenschaftlich hervorragender Akademiker, die Mitgliedschaft angetragen wurde, lehnte er mit der Begründung ab, daß Titel und Ehren bedeutungslos seien.
    Die letzten zwei Jahre seines Studiums waren durch ein Vierzigtausend - Dollar - Erbe finanziert worden, das ihm von einem Freund der Familie vermacht worden war. Als er seinen Bachelor schließlich in der Tasche hatte, waren von dem Erbe noch vierundzwanzigtausend Dollar übrig. Geld, von dem seine Eltern annahmen, daß er es für ein weiterführendes Jurastudium verwenden wolle. »Wir hatten die Signale falsch gedeutet«, räumt sein Vater ein. Was Walt, Billie und Carine nicht ahnten, als sie zu Chris' Abschlußfeier nach Atlanta flogen - was niemand ahnte - , war, daß Chris kurz darauf das gesamte Geld OXFAM America spenden würde, einer Hilfsorganisation, die sich dem Kampf gegen den Welthunger verschrieben hat.
    Die Abschlußzeremonie fand am 12. Mai statt, einem Samstag. Die Familie hörte sich eine langatmige Ansprache von Arbeitsministerin Elizabeth Dole an, und als der große Augenblick schließlich gekommen war, machte Billie ein paar Fotos von ihrem Chris, wie er mit breitem Lächeln das Podium betrat und sein Diplom entgegennahm.
    Der nächste Tag war Muttertag. Chris schenkte Billie Konfekt, Blumen und eine rührende Glückwunschkarte. Sie war überrascht und tiefbewegt: Es war seit über zwei Jahren das erste Geschenk von ihrem Sohn. Damals hatte er seinen Eltern eröffnet, daß er in Zukunft aus Prinzip Geschenke weder annehmen noch verteilen werde. Erst kürzlich hatte Chris seinen Eltern einen Rüffel erteilt, weil sie ihm zum Uni - Abschluß einen neuen Wagen kaufen wollten. Außerdem boten sie ihm an, das Jurastudium zu finanzieren, falls sein Studienfonds nicht ausreichen sollte.
    Er habe bereits einen prima Wagen, beharrte er: seinen heißgeliebten 82er Datsun B120, ein wenig zerbeult zwar, aber ansonsten voll funktionstüchtig, mit 128000 Meilen auf dem Buckel. »Ich kann einfach nicht fassen, daß sie mir unbedingt einen neuen Wagen aufschwatzen wollen«, beschwerte er sich später in einem Brief an Carine:
    ... oder daß sie glauben, ich würde mir tatsächlich von ihnen das Jurastudium finanzieren lassen, falls ich es überhaupt anfange... Ich habe ihnen bereits tausendmal gesagt, daß ich den besten Wagen habe, den es überhaupt gibt, einen Wagen, der den ganzen Kontinent durchquert hat, von Miami bis Alaska, einen Wagen, der mich auf diesen Tausenden von Meilen nicht ein einziges Mal im Stich gelassen hat, einen Wagen, den ich für nichts in der Welt hergeben würde, einen Wagen, der mir unglaublich viel bedeutet - und jetzt ignorieren sie einfach, was ich sage und glauben tatsächlich, daß ich mir
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