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In den W?ldern tiefer Nacht

In den W?ldern tiefer Nacht

Titel: In den W?ldern tiefer Nacht
Autoren: Amelia Atwater-Rhodes
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ich es jedesmal erkennen konnte, wenn die Visionen in seinem Geist aufstiegen. Niemand außer mir bemerkte, wenn sein Gesicht sich wieder einmal verdunkelte und sein Blick sich nach innen richtete, als würde er Stimmen lauschen, die nur er hören konnte.
      Als ich die Tür erreichte, sah ich, was Lynette so betrübt hatte. Der Besucher war ein dunkelhaariger junger Mann mit schwarzen Augen, den ich nur flüchtig kannte. Lynette war vierzehn und mißgönnte mir die Aufmerksamkeit, die die Jungs in der Stadt mir zollten, obwohl sie das niemals zugegeben hätte.
      Alexander betrachtete den Gast mit einem dunklen Blick. Ich beobachtete ihn genau, um an seiner Reaktion abzulesen, was in meinem Besucher vor sich ging. Ich fürchtete mich vor dem, was er jetzt sah und las.
      Ich wandte mich von meinem Bruder ab und sah den jungen Mann an. Er trug eine schwarze Reithose und ein purpurrotes Hemd. Die Farbe war viel zu grell für die Zeit; Stoffe in solchen Tönen zu färben war sehr teuer. Seine Kleidung hatte vermutlich mehr gekostet als meine gesamte Garderobe.
      »Bitte, kommen Sie doch herein«, sagte mein Papa. »Ich bin Peter Weatere, Rachels Vater, und dies ist mein Sohn Alexander. Das ist meine andere Tochter Lynette«, fügte er hinzu, als wir zu ihnen traten. »Und Rachel kennen Sie natürlich schon.«
      Papa ging davon aus, daß der Besucher mich kannte, da er nach mir gefragt hatte. Aber ich hatte ihn nur hin und wieder auf der Straße gesehen, und das einzige Mal, als ich ihm begegnet war, hatte er mir seinen Namen nicht genannt.
      »Aubrey Karew«, stellte sich der junge Mann vor, als er meinem Vater die Hand schüttelte. Ich bemerkte einen leichten Akzent, den ich allerdings nicht zuordnen konnte. Ich hatte nicht viel Erfahrung mit fremden Sprachen.
      Ich sah auf, und Aubreys Blick hielt mich fest. Er jagte mir Schauer über den Rücken. Aus irgendeinem Grund konnte ich die Augen nicht abwenden, so als wäre ich ein Vogel, der im Blick einer Schlange gefangen war.
      »Was kann ich für Sie tun, Mr. Karew?« fragte mein Vater. Ich bemühte mich, meinen Blick niederzuschlagen, wie es sich gehörte, aber es gelang mir nicht. Aubreys Augen waren hypnotisierend, und ich mußte sie einfach ansehen.
      Dann überreichte mir der seltsame junge Mann eine Rose, die ich annahm, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich hätte von einem Mann, den mein Vater kaum kannte, eigentlich keine Geschenke annehmen dürfen, aber sein Blick hatte mich so sehr verwirrt, daß ich die Rose in der Hand hielt, bevor ich wußte, was es eigentlich war.
      »Mr. Karew«, sagte mein Vater stirnrunzelnd, »das ist aber nicht sehr schicklich...«
      »Da haben Sie recht«, sagte Aubrey.
      Papa war fassungslos. Ich betrachtete die Rose in meiner Hand. Sie war wunderschön – solche langstieligen Rosen wuchsen nicht bei uns in den Nordstaaten. Im ersten Augenblick dachte ich, daß sie tiefrot sei, aber dann bemerkte ich, daß sie schwarz war. Eine der Dornen zerkratzte meine Hand so tief, daß Blut hervorquoll. Ich nahm die Rose in die andere Hand und hoffte, daß es niemandem aufgefallen war.
      Ich sah wieder zu Aubrey, dessen Blick auf den Kratzer auf meiner Hand gefallen war, und wieder jagte mir ein Schauer über den Rücken. Aubrey drehte sich unvermittelt um und ging. Er war verschwunden, bevor jemand auch nur ein Wort sagen konnte.
      Mein Vater wandte sich mit strengem Gesicht an mich, aber mein Bruder kam ihm zuvor.
      »Es ist zu spät, um noch vernünftig über unseren Besucher zu reden. Wir brauchen unseren Schlaf, bevor morgen in aller Frühe die Kirchenglocken läuten.« Ich kannte meinen Bruders gut, und ich wußte, was dieser Tonfall bedeutete: Er wollte zwar über Aubrey reden, aber nicht mit meinem Vater. Papa nickte, er respektierte meinen Bruder.
      Alexander hatte als einziger in der Familie die Verletzung an meiner Hand bemerkt. Nachdem mein Vater aus dem Zimmer gegangen war, führte er mich hinaus zum Brunnen, damit ich die Wunde auswaschen konnte. Er sah besorgt aus.
      »Was ist denn los, Alexander?« Ich hielt immer noch die Rose in der Hand, wenn ich mir dessen auch kaum bewußt war. »Du siehst aus, als wäre unser Gast der Teufel persönlich gewesen.«
      »Vielleicht hatte er das auch«, sagte Alexander mit dunkler und gedämpfter Stimme. »Ein schwarzäugiger Mann, den wir noch nie gesehen haben, kommt in unser Haus und schenkt dir eine schwarze Rose. Du nimmst das Geschenk an und kannst
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