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In den Spiegeln - Teil 3 - Aion

In den Spiegeln - Teil 3 - Aion

Titel: In den Spiegeln - Teil 3 - Aion
Autoren: Ales Pickar
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den engen Steg, der wie Marmor aussah. Ich folgte ihr, während sich mein Magen verkrampfte, da nur einen halben Schritt links und rechts von meinen Füßen der mächtige Abgrund gähnte. Während wir gingen, verlängerte sich die Brücke immer weiter, nur wenige Meter vor uns. Sie war leicht gebogen, so dass wir zuerst etwas bergauf gingen. Ich wagte es kaum, von meinen Füßen hochzublicken, doch sah ich bereits, dass auf dem Zenit des Brückenbogens eine größere Plattform am Entstehen war.
    Als ich sie erreichte, befanden wir uns über der Mitte des Abgrunds, doch mit festem Boden unter den Füßen. Über uns schwebte eine altmodische Leuchttafel mit der Aufschrift »El Corazón«. Die Plattform war an die zehn Schritt breit und mindestens zwanzig lang. Zu meinem Erstaunen begannen um mich herum Gestalten zu erscheinen. Möbelstücke traten aus dem Nichts hervor und nur einige Gedanken weiter befand ich mich inmitten eines Cafés. Über unseren Köpfen war das Jenseits, mit seinen unzähligen Seelen auf dem Strom der Bestimmung, doch um mich herum waren die Dreißiger Jahre, aus denen rätselhafte Gesichter auftauchten. Ich trat schnell beiseite, um einem tanzenden Paar Platz zu machen. Und ich hörte Musik. Unerwartet durchschnitt sie dieses akustische Vakuum. Es war ein alter Song. Ich kannte ihn von meinem Vater. Ein Tango von Carlos Gardel. Ich erinnerte mich deutlich an die Schallplatte, die meinem Vater die wertvollste war. Schwerer Schellack, etwas kleiner als die Alben der Nachkriegszeit. Das Label in der Mitte der Scheibe war rot und mit goldenen Lettern bedruckt. Der Schriftzug »ODEON — Fabriqué en France« fiel mir wieder deutlich ein und die zwei alten Briefmarken, die auf dem Label klebten.
    An der hinteren Wand des Cafés saß ein Mann auf einem Stuhl. Er trug einen altmodischen Anzug und eine gepunktete Fliege. Seine Haare waren dunkel und mit einer Pomade glattgekämmt. Zwischen seinen Knien klemmte eine spanische Gitarre. Ich erkannte sein Gesicht sofort von der Schallplattenhülle meines Vaters. Er war die Musik.
    Mein Vater hatte mir mal erzählt, wie Carlos Gardel 1935 bei einem Flugzeugunglück gestorben war und dass sich deshalb Menschen in Lateinamerika das Leben genommen hatten. Vielleicht waren das jene Menschen, die nun um uns waren.
    Es waren Gäste, die an den Tischen saßen und den Tanzenden auf der Tanzfläche zusahen. Adam Kadmon nahm lässig Platz an einem freien Tisch und deutete mir, es ihm gleichzutun.
    »Adiós muchachos, compañeros de mi vida«, hörte ich den große Milongero mit sanfter Stimme eröffnen.
    Plötzlich wurde mir klar, dass ich so oft Schlechtes über meinen Vater dachte und tatenlos unser Verhältnis begrub, in der festen Überzeugung, dass Väter kein Gespür für den Puls der Zeit haben. Doch jemand, der Carlos Gardel liebte, konnte weder schlecht sein, noch verdiente er es, an der zickigen Hysterie der Neuzeit gemessen zu werden. musste ich erst das Jenseits betreten, um dies zu erkennen?
    Akhanta blieb misstrauisch am Eingang des Cafés stehen und beobachtete uns starr. Ähnlich wie ich wirkte sie hier fehl am Platz und falsch gekleidet. Wir befanden uns nun im Lichtmannschen Universum. In seinen Imagos.
    »Dein Körper ist auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus zerschlagen«, entzog mich Adam Kadmon meinen Gedanken. »Diesen Teil der Aschewerdung nennen wir das Artificium . Es ist kein Selbstmord, auch wenn die im Diesseits es meistens so einschätzen. Das Artificium befördert dich hierher. Doch um geistig unversehrt zurückzukehren, ist es nötig, tief in die Trickkiste der Schatten, der Inferni zu greifen, die vor Jahrtausenden das Jenseits gestaltet haben. Es gibt hier ein Überbleibsel der alten Tage, des Ersten Zeitalters , als die Inferni das Jenseits beherrschten. Sie heißt Apythia und sie ist das Tor zum Diesseits. Hast du jemals die zweite Tarotkarte gesehen?«
    Ich war mir nicht sicher.
    »Nun, sie ist eine etwas entartete Version davon...«
    »Und sie schickt uns zurück?«
    »Das Geheimnis der Aschewerdung besteht darin, dass du von jedem lebenden Menschen, der auf der Welt wandelt, Besitz ergreifen kannst. Du kannst seinen Körper beanspruchen, seine Gedanklichkeit ablösen und seine Seele ins Jenseits schicken. Hierher.«
    »Du tötest bei der Rückkehr Menschen?« Ich hatte keine solche Wende erwartet.
    »Beruhige dich. Es ist nicht ganz so dramatisch. Doch dafür viel spannender. Es wird dir gefallen.«
    Er bestellte einen Wein und
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