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Im Zug (German Edition)

Im Zug (German Edition)

Titel: Im Zug (German Edition)
Autoren: Uwe Lammers
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hätte auch auf der Stelle sterben können, ohne dass jemand davon Notiz nahm …
    Dieser Gedanke erschreckte Helen zutiefst. Und vor der Schlussfolgerung schrak sie nach wie vor zurück.
    Stattdessen wanderte sie wie ein Geist durch das improvisierte Lager der Versehrten, vorbei an aufgerissenen Taschen und Koffern, die nur notdürftig wieder geschlossen worden waren. Während dieser Wanderung schnappte die Historikerin halblaute Sätze und Bemerkungen der Verwundeten auf. Alle sprachen seltsam gedämpft, wie aus Entfernung oder durch ein Tuch hindurch, als befänden sie sich in einer Kirche, wo es sich nicht gehörte, laut zu reden oder zu lachen.
    Der Gedanke an Gelächter war hier einfach absurd.
    „ ... die Schneidbrenner haben aufgehört zu zischen. Also haben sie jetzt den letzten Unglückswaggon auch aufbekommen.“ Ein grauhaariger Mann mit geflickter Nickelbrille sagte das, während er an seinem Kaffee nippte. Seine Hände zitterten, als habe er Schüttelfrost. Helen wunderte sich, dass er nicht auch mit den Zähnen klapperte.
    „ Ja“, stimmte sein Gegenüber schmallippig zu. Die ausgemergelt wirkende, hagere Frau mit dem Habichtsgesicht wurde durch die Pflaster auf Wangen und Stirn nicht eben fotogener. Sie sah aus, als verstünde sie überhaupt keinen Spaß. Aber in den grauen Augen zeigte sich so etwas wie Mitgefühl. „Habe gehört, dass nach den Listen nur noch zwei Personen vermisst werden.“
    „ Eine. Ein kleines Mädchen.“
    „ Und die andere …?“
    „ Hast du den Pfiff vorhin nicht gehört …? Weißt doch, was ein Pfiff bedeutet, hm? Verdammt, ich hoffe nur …“
    Ein schrilles, klagendes Pfeifen erklang aus der Ferne. Vom Bahndamm. Helen war sich absolut sicher, und ihr wurde ganz flau.
    Eine der Frauen schniefte und bekreuzigte sich instinktiv.
    Helen konnte nicht mehr. Oh, gütiger Gott, sie KONNTE einfach nicht mehr!
    Sie spürte einen derartigen Schwindel, dass sie haltlos ins kalte, nasse Gras niedersank. Niemand registrierte das, wie erwartet. Es war, als ob Helen weniger ein Mensch denn ein Geist sei … und das war dann die Erkenntnis, die ihr die letzte Kraft raubte. Helen Edwards fühlte eine Ohnmacht herannahen gleich einer mächtigen, alles erdrückenden Woge. Sie krächzte hilflos, ruderte mit den Armen, doch vergebens … die Ohnmacht schlug über ihr zusammen mit der Wucht einer alles verzehrenden Naturgewalt, die sich nicht aufhalten ließ.
    Die Welt wurde schwarz um Helen Edwards.
    Und dann erwachte sie …
    *
    … und schreckte mit einem leisen, erstickten Schrei hoch.
    Warme, weiche Arme umfingen Helen Edwards beruhigend. Sie schluchzte unwillkürlich und klammerte sich ihrerseits fest an ihrem Gegenüber. Ein vertrautes Vibrieren durchdrang ihren voller Angst bebenden Körper. Eine kleine Hand strich behutsam über ihre Wangen, und irgendwer murmelte besänftigende Worte.
    Helen riss entsetzt die Augen weit auf und blinzelte dann sprachlos, völlig durcheinander in Victorias Gesicht. Das sechsjährige Mädchen lächelte und streichelte erneut Helens Wange, auf der sie nun die kühlen, entwürdigenden Spuren von frischen Tränen fühlte.
    Sie war im Zug .
    Oh, großer Gott, sie war wieder im Zug.
    Oder immer noch im Zug?
    „Keine Angst haben, Tante Helen. War doch nur ein Traum, oder?“
    „Ja“, keuchte die Historikerin jetzt, seltsam atemlos, immer noch völlig durcheinander. Sie japste fast, atmete hektisch und merkte dabei nicht, dass das Mädchen sie anders anredete. Familiärer. Als sei Helen Edwards von dem Kind adoptiert worden. „Natürlich … nur … nur ein Traum.“
    Aber sie war davon gar nicht überzeugt. Himmel, es war alles so REAL gewesen! Der feuchte, klamme, weiße Nebel ringsum, die zertrampelten Stellen im Gras, die verdrossenen, erschöpften Männer bei dem Ambulanzwagen … so real wie das Innere dieses gespenstischen, verzauberten Zuges, in dem sie sich beide befanden.
    Unwillkürlich fasste sie Vickys Körper fester, was das Mädchen zum Kichern brachte. Vicky war wirklich. Sie war ein lebender Mensch, kein Geist! Jede andere Erklärung hörte sich … absurd an, nicht wahr? Lächerlich.
    Helens aufgebrachte Seele ließ sich von diesen unbewussten Mantra kaum wieder besänftigen. Sie wusste, was sie gesehen, gefühlt, gehört hatte. Solche lebhaften Träume hatte sie nie zuvor gekannt … warum sollten sie auf einmal anfangen? Und dann noch mit solch monströsen Inhalten …?
    Die Historikerin ließ es einfach geschehen,
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