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Im Zug (German Edition)

Im Zug (German Edition)

Titel: Im Zug (German Edition)
Autoren: Uwe Lammers
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Historikerin von einem schrecklichen Zugunglück geträumt zu haben schien, erlebte das engelgleiche Kind, wie dieser rätselhafte Geisterzug – wenigstens im Schlaf – an seine Endstation gelangte.
    Allerdings hieß diese Endstation wahrhaftig nicht Oxford. Was auch immer das für ein Ort gewesen sein mochte und wo er vielleicht lag (wenn er jenseits des Traumes eine gewisse Wirklichkeit besaß) – mit Oxford hatte er wirklich nicht das Geringste gemein.
    „Ganz große Glasgebäude“, erklärte das Mädchen, noch immer staunend, und die wunderbaren Augen leuchteten voller Begeisterung. „Sie waren höher als die Wolken … und voller Licht, als wenn es riesige Lampen wären … das war so toll, ich dachte, mir fallen die Augen raus, wirklich, Tante Helen … glaubst du mir das?“
    Seit wann nannte Victoria sie „Tante“? Das war ja niedlich. Helen fühlte sich geschmeichelt und murmelte, um dem Kind zu gefallen: „Natürlich, meine Kleine.“
    Das Mädchen zog eine Schnute. Vicky wirkte beleidigt, und in diesem Moment begriff Helen Edwards, dass sie wirklich instinktiv eine Menge vom Verhalten der Erwachsenen verstand. Unehrlichkeit bemerkte Victoria sofort. Und war verstimmt. „Du glaubst mir NICHT! Du denkst, das war nur ein Traum !“
    „Ja … also … nun …“
    „Aber das war nicht NUR ein Traum!“ Auf seltsame, eindringliche Weise wirkte Victoria plötzlich erwachsener als Helen selbst, es schien gerade so, als seien die Rollen auf obskure Weise vertauscht worden. „Schau, es fing alles damit an, dass die Lichter viel mehr wurden. Am Himmel fing das an, weißt du? Da waren auf einmal so viele Sterne, viel mehr Sterne, als ich je gesehen habe. Und dann kam die Stadt in Sicht und wurde groß und immer größer … und ich WEISS, da kommen wir hin, zu Freunden.“ Die letzten Worte stieß das blonde Mädchen mit großer Eindringlichkeit hervor.
    Dann aber huschte ein Schatten unvermittelt über ihre Züge. Sie hielt mit dem Sprechen innehielt und schien sich an etwas zu erinnern, das alles andere als angenehm war.
    Nun, so schlimm wie das, was sie selbst geträumt hatte, konnte es kaum gewesen sein, dachte Helen. Aber der sich andeutende Gefühlsumschwung bereitete ihr doch Sorgen. Es fehlte gerade noch, dass das Mädchen wieder zu weinen begann!
    „Was ist denn? Vicky!“ Sie drückte die Kleine fürsorglich an sich, versuchte den überraschenden Anflug von Beklommenheit schon im Ansatz zu verscheuchen. „Was war denn noch ? Komm, sag es mir! Irgendwas Schlimmes?“
    Victorias Stimme wurde undeutlicher, matter, als traute sie sich nicht, das auszusprechen, was sie noch gesehen hatte. Sie war kaum verständlich: „... Mum … keine Mum da …“
    Gott, ja … natürlich!
    Helen spürte, wie das Mädchen gleich wieder anfangen würde zu schluchzen. Und sie wusste, das konnte sie nicht ertragen. Nicht, nachdem sie Victorias Mutter draußen am Bahndamm …
    Ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Ihre Gedanken setzten aus, die furchterregenden Erinnerungen an den eigenen Traum wurden mühsam in den Hintergrund gedrängt. Hastige Worte kamen wie von selbst über Helens Lippen.
    „Hör mal, Vicky … ich bin doch da“, versicherte sie eifrig, das blonde, schöne Haar und den bebenden schmalen Rücken des Kindes fürsorglich streichelnd. „Glaub mir, ich bin bei dir. Dir kann nichts passieren!“
    „... nicht passieren … nein … aber alleine  …“, klagte Vickys dünne Stimme. Aller Optimismus, alle Freude von eben war wie weggeblasen. Gott, unterlag die Kleine Stimmungswandeln! Das war ja nur noch schlimm!
    „Nein, du bist auch nicht alleine! Ich bin bei dir!“
    Das kam so instinktiv, dass Helen erst mit einiger Verspätung begriff, wie sehr ihr Herz an diesen Worten beteiligt gewesen war. Doch, es war ihre feste Entscheidung: sie würde Victoria nicht im Stich lassen. Auf gar keinen Fall.
    Maggie und alles, was ihre eigene Vergangenheit betraf, verlor irgendwie an Bedeutung. Wichtig war Helen jetzt nur noch dieses hilflose, verwaiste Kind, an dessen Gegenwart sie sich so sehr gewöhnt hatte. „Glaub mir, ich bin bei dir!“
    Schniefend hob das Mädchen sein hübsches Gesicht und blickte die Historikerin forschend, bangend an. Gott, sahen diese feuchten Augen aus! Unvergleichlich! Jeder, der sie erblickte, musste Victoria unverzüglich zu trösten suchen.
    „Und du … du bleibst wirklich bei mir?“, wisperte sie, ein bisschen ungläubig, wie es schien.
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