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Im Zeichen des himmlischen Baeren

Titel: Im Zeichen des himmlischen Baeren
Autoren: Federica de Cesco
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Sonne bereitete meinen Augen Schmerzen, bevor die Helle erlosch und sich Dunkelheit wie das Gewicht fallender Himmel auf mich herabsenkte. Aus der Finsternis, die schwindelerregend um mich kreiste, stieg unklar ein Bild auf. Ich sah meine Mutter im Fackelschein auf der Matte liegen. Sie war bleich wie Wachs und ihre Augen lagen in pflaumenblauen Höhlen. Oberhalb ihres weißen Gewandes, dort wo unter der zarten Haut des Halses die Ader pochte, sah ich eine eiternde, schwärzlich entzündete Wunde. Ich vernahm ihre Stimme. Sie war leise, stockend, und dennoch klar zu verstehen: »Schwört bei der heiligen Waffe … Euch nicht von Zorn oder Rache leiten zu lassen … Euch nicht im Streit gegeneinander zu erheben …« Jemand vor ihr hielt mit beiden Händen das Schwert, das im Schein der Fackel glänzte. Eine Stimme sagte: »Ich schwöre es …« Es war nicht Iris Stimme, es war …
    Irgendwo schrie eine Möwe, schrill, unaufhörlich, ohrenbetäubend. Die dunkle Welt um mich herum löste sich auf: Unerträgliches Licht blendete mich. Ich fand mich schweißgebadet an Deck des Schiffes unter dem gelben Baldachin wieder, hörte die Möwe kreischen und den König mit schneidender Stimme sagen: »Niemand wird als Verräter geboren. Wer sich jedoch zum Treuebruch bekennt, muss sich vor der Welt und der Gottheit verantworten.«
    Ich starrte wie benommen auf Nagasume Tomi. Mein ganzer Körper schmerzte wie unter einem unerträglichen Druck. Ich sah, wie seine Augen sich zu leuchtenden Schlitzen verengten. Alle Höflichkeitsformen außer Acht lassend, erhob er sich als Erster und zwang dadurch den König, sich ebenfalls zu erheben. Die Blicke der beiden Männer maßen sich wie aufeinanderprallende Klingen. Iri war weiß vor Zorn. Seine angespannten Halsmuskeln zitterten. Nagasume Tomis Gesicht glich einer Maske. Ohne sich umzusehen, gab er ein Zeichen, und der Ainu-Jüngling trat an ihn heran. Nagasume Tomi legte ihm die Hand auf die Schulter. Seine Stimme klang gedämpft in der unnatürlichen Stille.
    Â»Dies ist mein Adoptivsohn Attero. Sein Volk, die Aiu-Utari, lebt seit Menschengedenken im Delta des Yodo-Flusses. Ihnen sind das Land und die Gewässer heilig. Sie gründen keine Städte und streben nicht nach Macht oder Ruhm, sondern leben von dem, was Wald und Meer ihnen schenken. Ihr aber erbaut Festungen und Straßen, erbeutet Reichtümer und haltet Sklaven. Ihr wühlt den Boden auf, fällt die Bäume, vertreibt die Tiere aus ihren Schlupfwinkeln. Die Bäume sagen: ›Wir sind wehrlos, tut uns kein Leid an!‹ Ihr aber sägt sie ab und zerhackt ihr Holz und die Geister der Bäume hassen euch deswegen. Ihr jagt die Tiere und die Tiere flehen euch an: ›Lasst uns am Leben!‹ Ihr jedoch tötet sie zu eurem Vergnügen und die Geister der Tiere hassen euch deswegen. Die Aiu-Utari glauben nicht, dass sie mehr sind als eine Pflanze, ein Tier oder ein Baum. Bevor sie einen Baum fällen, sagen sie: ›Verzeih mir, aber ich brauche dein Holz, um mir eine Unterkunft zu bauen oder ein Boot zu zimmern.‹ Bevor sie ein Tier erlegen, sagen sie: ›Verzeih mir, aber ich benötige dich, um meinen Hunger zu stillen, und eines Tages werde auch ich sterben müssen.‹ So leben sie im Einklang mit der Erde und den Gestirnen, ihr aber erobert das Land mit der Leidenschaft des Hasses und der Anmaßung der Mächtigen …« Er ließ den König nicht aus den Augen und schleuderte ihm die Worte entgegen. »Die Aiu-Utari ehrten mich, indem sie mich zum ›Ottena‹ machten. Sie sind bereit zu kämpfen und ich werde sie führen. Wir fürchten nicht den Tod. Es ist das Los eines jeden zu sterben, während Berge, Meere und Himmel bis in alle Ewigkeit fortbestehen.«
    Iri starrte ihn an, als sähe er einen Wahnsinnigen vor sich.
    Â»Ich könnte Euch auf der Stelle festnehmen und als Verräter aburteilen lassen!«, stieß er hervor.
    Â»Das würde Euch, Majestät, nicht zur Ehre gereichen«, erwiderte gleichmütig Nagasume Tomi. »Bin ich nicht Euer Gast an Bord? Außerdem befinden sich dreitausend Krieger in den Booten rund um die Galeere. Weitere dreitausend warten im Schilf auf meinen Befehl …«
    Itzuse konnte sich nicht länger beherrschen. Ungestüm riss er sein Schwert aus der Scheide und stürzte sich auf Nagasume Tomi, bereit, mit beiden
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