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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten
Autoren: Linda Fairstein
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abgeworben hatte.
    »Hören Sie, Mr Chapman, können wir nicht einfach den Keller absperren und nach Hause gehen? Das … das …« – Professor Davis wedelte mit der Hand in Richtung des Skeletts – »das hier kann doch sicher bis morgen warten.«
    »Haben Sie es so eilig, jemandem an die Wäsche zu gehen? Wir schaffen das hier auch ohne Sie.«
    Davis warf immer wieder nervöse Blicke zur Treppe. Es war nicht ungewöhnlich, dass Leuten in Gegenwart einer Leiche unbehaglich wurde, aber diese Überreste glichen eher einem Museumsexponat oder einem Studienobjekt als den Gebeinen eines Menschen, der vor kurzem noch am Leben gewesen war.
    »Der Dekan bat mich, hier zu bleiben und mit Ihnen zu warten. Das werde ich natürlich tun.«
    »Wie alt ist dieses Haus?«, fragte Mike.
    Nan war nach oben gegangen, um uns Wein nachzuschenken und Mike ebenfalls ein Glas zu bringen. Der Dekan hatte das Gebäude räumen lassen, aber die Barkeeper hatten die Getränke nicht mitgenommen.
    »Über zweihundert Jahre«, sagte Davis. »Deshalb war die Aufregung ja so groß, als die Jurafakultät das Grundstück kaufte. Die Leute hier im Viertel wollten es unter Denkmalschutz stellen, obwohl es architektonisch unbedeutend ist. Ich habe bei dem Prozess die Universität vertreten.«
    Mike prostete dem Skelett zu. »Auf dein Wohl, Freundchen. Bald kommst du da raus.«
    »Können uns die Wissenschaftler tatsächlich sagen, wie lange dieses Skelett schon hier ist?«
    »Es hat ein bisschen mit moderner Forensik und viel mit Indizienbeweisen zu tun. Ich für meinen Teil mag es am liebsten, wenn die Typen noch eine alte Zeitung umklammert halten, auf der das Datum steht. Der Stadtbote von 1805 mit den neuesten Meldungen von Napoleons Sieg über die Österreicher bei Austerlitz. Ansonsten überlasse ich das Feld dem Gerichtsmediziner«, sagte Mike.
    »Eine komische Art, seinen ewigen Frieden zu finden, findest du nicht auch?«, sagte ich. »Aufrecht in einem Sarg aus Ziegelsteinen.«
    »Und nackt. Splitterfasernackt – außer seine Unterhosen sind ihm in die Kniekehlen gerutscht, wo ich sie gerade nicht sehen kann. Man hätte wenigstens den Anstand besitzen können, ihm einen schwarzen Anzug zu spendieren, findet ihr nicht auch?« Mike wandte sich an den Professor: »War das Haus noch bewohnt, als die Universität es gekauft hat?«
    Davis nickte. »Ja, bis vor ein paar Jahren war es durchgehend bewohnt. Ursprünglich befand sich hier die Küche des Hauses, was die Töpferwaren und Küchenutensilien dort drüben erklärt. In den 1940er Jahren beherbergte es ein Restaurant namens Bertololloti’s, und in den Sechzigern hat man es zu einem Wohnhaus umgebaut. Seitdem haben hier vor allem Studenten und Dozenten gewohnt. So wie sich der Unicampus ausgedehnt hat, ist die Lage optimal.«
    »Ich kenne ein paar Leute, die dich dafür hassen werden, Coop. Irgendein armer Schlucker drüben in der Abteilung für ungelöste Fälle wird sich bis zu seiner Pensionierung die Mieterverzeichnisse und Volkszählungsdaten ansehen müssen, um herauszufinden, ob irgendein Bewohner dieses Hauses in den letzten zweihundert Jahren als vermisst gemeldet wurde.«
    Professor Davis setzte sich auf die Kante des Tisches, auf dem die ausgegrabenen Artefakte lagen. »Sie hören kein Herzklopfen, oder?«
    Mike lächelte ihn an. »Ich habe Sie doch gar nichts trinken sehen, Mr Davis. An diesen Knochen hängt kein Fleisch mehr.«
    »Ich rede nicht von dem Skelett, Detective. Ich rede von den Dielenbrettern.«
    Mike sah mich verständnislos an, aber ich kapierte genauso wenig wie er.
    »Kein verräterisches Herz, Mr Chapman? Ich gebe Ihren Kollegen einen Tipp. In diesem Haus hat einst Edgar Allan Poe gewohnt. Dieses ungastliche kleine Gebäude war hier im Viertel als Poe-Haus bekannt.«
     

5
     
    Mike Chapman kam kurz nach einundzwanzig Uhr mit Andy Dorfman die schmale Treppe herunter. »Laut Aussage des Professors war das hier Poes letzte Wohnung in Manhattan. 1845, richtig?«
    »1845 bis 46«, bestätigte Davis. »Damals hieß die Straße noch Amity Street. Amity Street, Hausnummer 85. Greenwich Village.«
    Dorfman war wegen des Fundes genauso aufgeregt wie ich. Als ehemalige Literaturstudentin faszinierte es mich, in einem Haus zu sein, in dem Poe gelebt hatte. Der forensische Anthropologe hingegen schien sich nichts aus der literarischen Vergangenheit zu machen. Er steuerte schnurstracks auf das Skelett zu und betrachtete es einige Minuten lang zusammen mit seinen beiden
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