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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Autoren: Brigitte Biermann
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Fürchten, besonders vor einer Lehrerin hatte ich richtig Schiss. Hatte eine den Spind oder das Bett nicht ordentlich gemacht, flog alles raus auf den Flur. Wer Widerworte gab, bekam eine Ohrfeige oder wurde eingesperrt. Zu Nikolaus erhielten die Braven eine Süßigkeit in den Schuh, die anderen eine Rute. Und immer wieder mussten wir das Linoleum der langen Flure bohnern mit Bohnerwachs und einem dieser entsetzlich schweren Bohnerbesen. Der Boden musste auf Hochglanz poliert werden, bis er so glatt war wie eine Eisbahn und auch so gefährlich.
    Neulich traf ich zufällig eine Verbündete aus jener Zeit, die auf mich zustürzte und rief: »Meine Carmen! Weißt du noch – Werftpfuhl? ›Wenn man mich hier nicht rausholt, bringe ich mich um‹, hast du damals gesagt!«
    Ich erinnere mich an meine Notrufe, Mama solle uns dort rausholen. Kurz vor Weihnachten durften wir nach Hause. Es wurde ein herrliches Fest mit großartigen Geschenken. Meine Schwester und ich bekamen neue, hochmoderne Anziehsachen: hellgrüne Dufflecoats, Wollmützen und schwarze Wildlederschuhe. Dazu eine Wochenendreise nach Warschau, um unsere Mutter in ihrer Eisrevue zu sehen. Sie musste laut Vertrag noch ein halbes Jahr bei dieser Revue arbeiten.
    Wir wollten auf gar keinen Fall zurück nach Werftpfuhl. Wir wollten in unsere alte Schule, in den Sportverein und ich zum Fernsehen. Also suchte meine Mutter eine neue Unterbringung. Sie gab uns zu den Ursulinerinnen ins St. Josefsheim, das liegt in der Pappelallee in Prenzlauer Berg. An der Pforte eine Nonne, im Hof ein kleiner Klostergarten mit einer Kapelle. Wir Schwestern wurden in unterschiedlichen Gruppen untergebracht. Das war die Zeit, in der wir uns voneinander entfernten. Meine Schwester war glücklich, endlich fand sie Ruhe. Sie fügte sich und wurde fromm. Und ich noch rebellischer. Mit niemandem konnte ich reden, hörte immer nur Gebete und Geschichten vom lieben Jesulein, begriff nicht, dass mich der liebe Gott, wenn er mich doch so lieb hat, so beschissen behandelte. Ich durfte zwar mit der S-Bahn in meine alte Schule fahren, aber wenn ich nur fünf Minuten zu spät zurückkam, wurde ich zur Rede gestellt. Nein, schlagen durften die Schwestern nicht, sie fanden andere Strafen. Zum Beispiel musste ich mit Schwester Cherubina in einem Zimmer schlafen, zwischen uns ein Paravent. Ich erschreckte sie mit Finger-Schattenspielen, sah an ihrem Schatten, dass ihr Kopf geschoren war, und als ich sie am Morgen danach fragte, setzte es die nächste Strafe. Oder ich musste morgens vor der Schu le in der Kapelle auf einem Bein stehend ich weiß nicht mehr wie oft »Gegrüßet seist du, Maria« beten. Auf der Empore saß eine Nonne und achtete darauf, dass ich nicht das Standbein wechselte oder mich gar hinsetzte.
    Ich hasste es, wenn man mich in eine Ecke schickte mit der Aufforderung, meine Schandtaten zu überdenken: »Wenn du fertig bist, sagst du, was du Gott gebeichtet hast und was du an dir verändern willst!«
    Ich bin fast verrückt geworden, was sollte ich an mir verändern, worüber nachdenken? Ich schrie in meiner Verzweiflung: »Dem sag ich gar nichts, keinem sage ich mehr was, ich will auch keinen lieben Gott mehr!«
    Ein derart aufsässiges Kind störte den Hausfrieden. Wir durften endlich wieder nach Hause, obwohl meine Mutter weitere drei Monate mit der Eisrevue unterwegs war. Wir beiden Mädchen blieben allein im Haus, versehen mit Haushaltsgeld und dem Appell meiner Mutter, vernünftig zu sein. Das waren wir, immer hungrig und manchmal am Rande des Chaos. Einmal in der Woche sah Oma nach uns, half bei der Hausarbeit wie Wäsche waschen und Strümpfe stopfen. Das war die schönste Zeit mit meiner Schwester.
    Wir hielten zusammen, und wir waren unglaublich brav. Haben uns geschworen, keine Geschichten mit Jungen anzufangen. Uns hatte nie jemand aufgeklärt, aber wir wussten: vom Küssen mit Zunge kriegt man Kinder. Wir schwärmten den jungen Kaplan aus der Gemeinde an, der trat uns nicht zu nahe. Nachts lagen wir in unseren Betten und malten uns unser künftiges Leben aus: Wenn wir mal groß sind und einen Mann haben, werden wir alles richtig machen, immer ein bisschen Geld beiseite legen und uns niemals scheiden lassen. Und unsere Kinder sollen nie allein sein.
    So haben meine Schwester und ich es gehalten. Wir haben beide nur einmal geheiratet, haben uns nie scheiden lassen, ich bin bei meinem Mann geblieben, bis uns sein Tod schied. Und wir haben beide zwei Kinder bekommen, für die
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