Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange
Autoren: carmen lobato
Vom Netzwerk:
so schrecklich knarrte, aufgeschoben wurde, dachte ich, es sei Vicente. Ich lief ihm entgegen. Aber es war Kurt.«
    Wieder fuhr der Schmerz in Katharinas Leib, zwei-, dreimal, wie Stiche mit einem Messer.
    »Er hatte diese Machete in der Hand. Diese riesige Klinge. Siehst du das?, hat er gesagt. Damit wollte dein Wilder deinen Geschwistern die Hälse durchschneiden. Und dann warf er die Machete beiseite und kam und wollte mich.«
    Die Frau bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie weinte nicht, vielleicht hatte man, wenn man so krank war, keine Tränen mehr. Weder Katharina noch Benito hätten zu ihr gehen können. Sie warteten ab, bis sie den Kopf wieder hob und ihnen entgegensah.
    »Ich habe ihn getötet«, sagte sie. »Ich habe irgendwie die Machete erwischt und ihn getötet. Ich habe so geschrien, aber niemand hat mich gehört. Ich will den Rest nicht erzählen. Don Benito, können Sie es für mich tun?«
    »Nein«, sagte Benito vollkommen tonlos. »Nur, dass Vicente kam, dass Sie beide geflohen sind, dass Ihre Schwester und Ihr Bruder Ihnen gefolgt sind, dass die Polizei kam und dass Sie alle das Kind retten wollten. Katharina. Sie wollten alle, dass Katharina nicht stirbt. Ich kann den Rest nicht erzählen, Doña Vera. Ich habe ihn nie verstanden. Sie tun mir alle leid, ich wünschte, jemand hätte Ihnen geholfen und es hätte kein Menschenopfer gebraucht.«
    Katharina drehte sich um. Benito stand starr, wie versteinert an der Wand. »Bitte erzähl mir, was mit meinem Vater geschehen ist.«
    »Er ist gehängt worden«, sagte Benito. »Für Mord. Er hatte ein starkes Genick. Es ist nicht schnell gebrochen, und seine Glieder haben in der Luft gezappelt.« Sie hörte ihn würgen. Mit einem Satz war sie bei ihm und tat, was er vorher bei der Frau getan hatte, schüttete Wasser in ihre Hände und träufelte es ihm in den Mund. Während sein Atem sich beruhigte, strich sie ihm schweißnasses Haar von der Schläfe. »Danke«, flüsterte er.
    Sie schüttelte den Kopf, drückte fest seine Hand und setzte sich wieder hin.
    »Ich war nicht bei mir«, sagte die Frau. »Ich wollte nur eins – mein Kind gebären und dann sterben. Mein Kind sollte Marthe nehmen und im Schutz der Familie aufziehen. Sie sollte Peter sagen, dass ich gestorben sei und ihn als Vater für mein Kind wolle. Peter und die anderen wussten ja nicht, dass ich, nicht Vicente, Kurt getötet hatte. Peter würde mich weiter lieben, er war ein guter Mensch, und er würde meinem Kind ein guter Vater sein.«
    Katharina krümmte sich noch einmal, aber der Schmerz in ihrem Leib ebbte ab. Sie sehnte sich nach Peter. Nach ihrem Vater. Sie sehnte sich danach, ihm zu sagen, dass er ihr ein guter Vater gewesen war, und mit ihm zu singen: Es wird ja alles wieder gut. Nur ein kleines bisschen Mut.
    »Ich wollte dort sterben, wohin ich mit Vicente hatte fliehen wollen, obwohl wir kaum aus Veracruz herausgekommen waren – in Querétaro. Josefa Ortiz war auch dort gestorben. Vicente hat Josefa Ortiz so verehrt. Meine Josefa, hat er zu mir gesagt. Meine Frau, die stark genug ist, viele Männer zu tragen. Josefa Ortiz war auch eingesperrt, und dennoch ist es ihr gelungen, Leben zu retten. Ich habe Leben zerstört. Das Leben des Mannes, den ich liebte. Daran gestorben bin ich nicht. Ich musste damit leben.« Ihr Blick flog zum Fenster, obwohl der Laden verriegelt war. »Wie ich hergekommen bin, weiß ich nicht mehr. Die Leute hier, Vicentes Leute, sprachen nicht mit mir, aber sie gaben mir zu essen. Einmal im Jahr schickte Marthe ein Päckchen. So hatten wir es vereinbart. Einmal im Jahr sollte sie mich wissen lassen, wie es meinem kleinen Mädchen geht.«
    Sie beugte sich vor und griff mit ihren kraftlosen Händen nach einem Korb. Katharina lief hin und half ihr. Auf einmal war sie ihr nah, streifte die knochige Hand ihr Gesicht. In dem Korb lagen die buckligen Päckchen vom Malecon, aufgerissen und wieder umwickelt. Heraus quollen Haarsträhnen, Briefe, ihre Kinderzeichnungen, ein Taschentuch, das sie ungeschickt umhäkelt hatte, ein gepunktetes Band, das sie im Haar getragen hatte.
    »Dafür habe ich gelebt«, sagte die Frau. »Für diese Päckchen von meinem Mädchen, und als irgendwann keine mehr kamen, habe ich einmal im Jahr die alten geöffnet. Sie darf es nie wissen, hat Marthe gesagt, denn wie soll ein Menschenkind das ertragen? Sie wird es gut bei uns haben, sie wird geliebt und behütet sein und wissen, wohin sie gehört. Das hat sie gehalten, nicht wahr? Das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher