Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst
Autoren: Marcus Sakey
Vom Netzwerk:
den hellgrünen Strampelanzug mit dem orangefarbenen Äffchen auf der Brust zu und zog die Wolldecke über Julians Bauch. Manchmal konnte sie ihn mit nichts trösten, wenn er weinte, ganz egal, wie verzweifelt sie ihn hin und her trug und flüsterte und ihn wiegte. In diesen Momenten war sie wehrlos gegen die Frage, ob er nicht doch nach seiner richtigen Mutter schrie, ob es da nicht irgendeinen Geruch gab, irgendein Gefühl von Sicherheit, das sie ihm nie würde bieten können, zumindest nicht vollständig. Aber heute Abend war Julian glücklich.
    Anna knipste das Nachtlicht an und schaltete die Deckenlampe aus, bevor sie sein Lieblingsstofftier holte, ein einäugiges, abgewetztes Tentakelmonster mit unzähligen Sabberflecken. Als Julian sein geliebtes Ungeheuer erblickte, streckte er sofort die Arme aus und griff mit seinen kleinen Händen in die Luft. Anna strich ihm über die samtweiche Wange – jeden Tag erschien er ihr noch perfekter als zuvor. Dann fing sie an zu singen, einfach den letzten Song, den sie gehört hatte, Kevin Tihistas sanfte, traurige Stimme im Ohr: »Do-o-n’t worry, baby, I’ll keep an eye on you, till you know what to do.« Julian starrte sie mit leuchtenden Augen an, die sich langsam, ganz langsam schlossen.
    Sie blieb sitzen und lauschte auf seinen Atem, während die Geräusche des nächtlichen South Carolina durchs offene Fenster hereinwehten. Nach einer Weile hörte sie, wie die Fliegengittertür quietschte und zuschlug, und schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer. Tom stand in der Küche, vor einem geöffneten Schrank, und schüttelte sich gerade eine Schmerztablette in die Handfläche. »Kopfschmerzen?« , erkundigte sich Anna.
    »Nicht so schlimm.«
    Sie drückte sich gegen seinen Rücken, schlang ihm die Arme um die Brust und ließ sich von seinen Atemzügen mittragen. Tom lehnte sich in sie hinein und legte seine Hand auf ihre. Eine Zeit lang standen sie schweigend beieinander, allein mit ihren Gedanken und dem Surren des Kühlschranks.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er schließlich.
    Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn von seinem Rücken zu nehmen.
    »Was ist?« Tom drehte sich um und schaute sie an.
    »Vorhin, als ich Julian gebadet habe. Er hat im Wasser geplanscht und gelächelt, so breit gelächelt, vom einen Ohr bis zum anderen und darüber hinaus, praktisch bis zu den Knien. Es …« Sie verstummte und sah zur Seite.
    »Was?«
    »Es sah genauso aus wie … wie bei ihr. Wie ihr Lächeln.«
    Eine Sekunde lang blickte Tom sie an, dann zog er sie in seine Arme, streichelte ihr Haar und presste sie an sich. Sie gab sich dem Trost hin, den er ihr bot – dem Trost, den sie sich immer wieder gegenseitig spendeten, wie ein Vorrat, aus dem sie schöpfen konnten, wenn es nötig war, den sie pflegten und hüteten, damit er langsam wuchs. Anna spürte, wie Wärme durch ihren Körper strömte und den Druck der Erinnerung linderte.
    Dann sagte Tom plötzlich: »Ich bin fertig.«
     
    »Wirklich?« Anna ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Ihr T-Shirt war noch feucht von Julians Bad. Die feinen Krähenfüße, die ihm vor einem Jahr zum ersten Mal aufgefallen waren, hatten sich zu deutlichen Linien vertieft.
    Tom warf ihr ein halbes Lächeln zu und legte ihr eine Hand an die Wange. »Ja.«
    »Kann ich es sehen?«
    Er nickte und ging voraus, quer durchs Haus in sein Arbeitszimmer. Die Schreibtischlampe brannte, ein goldenes Leuchten in der Dämmerung. Tom öffnete eine Schublade und holte einen etwa dreihundert Seiten dicken Papierstapel heraus, deutete auf einen Sessel und setzte sich gegenüber hin. »Es ist nur eine Rohfassung.«
    »Hast du dich an die Wahrheit gehalten?«
    »Ich hab’s versucht.«
    Anna streckte die Hand aus. Tom reichte ihr das Manuskript, lehnte sich zurück und sah zu, wie sie die erste Seite las – den Brief. Ihr Gesicht durchlief eine ganze Bandbreite an Emotionen – erst lächelte sie, dann kniff sie die Lippen zusammen, bevor ihre Augen feucht wurden. Als sie fertig war, legte sie das Blatt zurück auf den Stapel.
    »Es ist perfekt«, sagte sie.
    »Willst du den Rest nicht lesen?«
    »Noch nicht.«
    Tom nickte. Zwischen ihnen war so viel geschehen, dass sie manchmal kaum noch mit Worten kommunizieren mussten. Er wusste, dass Anna mit denselben Gedanken rang wie er, dass auch sie versuchte, ihren Weg zu einem Glück zu finden, das nie aus den Augen verlor, welchen Preis sie dafür gezahlt hatten. Freude auf dem Fundament der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher