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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Autoren: Gabriel Heim
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bin da! Sie kann sich in Not zwischen zwei geparkte Autos hocken und pinkeln, sie betritt teure Boutiquen, um vor dem Spiegel wortlos und herablassend Rouge nachzulegen. Sie ist schamlos und manchmal ohne Maß. Für den Sohn eine sichtbare, oft zu deutliche Frau. Was habe ich mich für sie – und wegen ihr – geschämt! In der Stadt und auf Reisen, überall drängelt sie sich vor, am Bahnschalter, im Kino, beim Eismann. Anstehen gilt nicht, so viel Zeit ist nicht, wir haben noch viel vor! In der Stadt und auf Reisen, wenn sie erzählt, dann so laut, dass am Nachbartisch, in gegenüberliegenden Zugabteilen oder zwei Sitzreihen weiter vorn jedes Wort zu verstehen ist. Am liebsten dort, wo sie an der Drehtür mit Namen begrüßt wird und immer wieder Pointen, Intimitäten, Sottisen, auch Unbeholfenheiten des kleinen Gabriel zum Besten gibt – mit Pfiff und Zungenschlag!
    Das alles ist grausam für mich – oh, wie gern wäre ich im Boden versunken, wenn Ilse in Fahrt kam. Danach hätte ihr gar nicht der Sinn gestanden, ich gehöre zum Publikum, zur Claque, zum Inventar. Dabei ist sie schrecklich stolz auf den kleinen Sohn, nimmt ihn überall mit und versorgt ihn preußisch unnachgiebig mit wollenen Pullovern; gestreiften und geringelten, die von der dicken Frau Nägeli auf Maß gestrickt werden. Oh, wie kratzt und juckt das alles, und die Anproben sind endlos. Frau Nägeli kann bestimmt fleißig »zwei rechts, zwei links«, ist aber langsam von Begriff und Ilse so ungeduldig. Während probiert und eingefädelt wird, ist Ilse schon wieder mit Zigarette am Telefon; eine nahe Freundin, Gespräch ohne Ende, ein neues Gerücht, ein Film, den man sehen muss: Ilse Heim, Anschluss 34

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68, kommt nicht zur Ruhe.
    Bei alledem und Hektik ist Ilse hilfsbereit, loyal und vielen eine gute Freundin. So wie sie sich selbst Raum verschafft, so kann sie sich für andere einsetzen. Sie kann eben schneller, besser und lauter reden, sie kann beleidigen und schmeicheln, drohen und belohnen. Woran ich mich deutlich erinnere – meine Primarschullehrerinnen lieben und fürchten Ilse in rascher Folge. Ilse ist viel Flut und kaum Ebbe, in ihren Gezeiten wachse ich auf.
    Mein Zimmer ist groß. In jeder anderen Familie wäre es das Schlafzimmer der Eltern. Ich kann mich nicht erinnern, dass hier je ein breites Bett gestanden hätte, obwohl ich später ein kleines Foto mit gezacktem Rand finde, das mich als zufriedenen Säugling auf der geblümten Daunenendecke eines Doppelbetts mit Kopfteil aus Bastgeflecht zeigt. Viele Bilder aus meinem ersten Jahr entdecke ich erst als erwachsener Mann in einem Schuhkarton, unbeschriftet und nicht mit Fotoecken in einem Familienalbum eingeklebt. Schon bald hat das breite Bett keinen Sinn mehr für Ilse, und so wird mein Zimmer stattdessen eingerichtet. Ilse hat es modern und knapp gehalten. Auf dem schönen Eichenparkett liegt ein großer, leuchtend roter Linoleumkreis. Er wird der Parameter meiner frühen Erlebniswelt – hier spiele ich, hier spielt sich alles ab.
    Über Eck zwei weite Fenster mit schweren roten und blauen Vorhängen. Die hat Fred Heim in seiner elsässischen Hemdenfabrik nähen lassen. Von dort kommen auch meine farbig gestreiften Pyjamas und das erste Seidenhemd. Vor dem Gartenfenster der lange Arbeitstisch mit der polierten, schwarzen Resopalplatte und der breiten Schublade, in die ich meine Geheimnisse gebe. Über dem schmalen Bett ist eine helle Leselampe angebracht, die sich mit einem Scherengitter bewegen lässt. An deren Glühbirne verstehe ich es, das Fieberthermometer auf jene magischen achtunddreißig Grad zu treiben, die mich von drohenden Klassenarbeiten und anderen Unglücken verschonen. Die Lampe habe ich immer noch.
    Ilse hat ihr Zimmer im vorderen Teil der Wohnung. Das Bett wird tagsüber mit einer bunten Decke eingeschlagen, und die Plumeaus werden in einem Bettkasten versenkt, denn ihr Zimmer zur Straße ist auch Durchgangsweg zur Veranda, wo gegessen wird. Ein großer antiker Nussbaumschrank und ein Sekretär aus dem Biedermeier bestimmen den Raum. Der breite zweitürige Wellenschrank hat ein unheimliches Innenleben. Dunkel und tief klebt in ihm ein Odeur von Kampfer und Chanel. Sommerblusen hängen neben Pelzmänteln, und tief unten warten Schuhe auf ihre Saison. Zweimal im Jahr verkriecht sich meine geliebte Tschibi hierher, um Kätzchen zur Welt zu bringen. Sie kündigt das jeweils ein paar Tage vorher an, indem sie mauzig durch die Wohnung streicht. Dann
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