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Ich war Hitlerjunge Salomon

Ich war Hitlerjunge Salomon

Titel: Ich war Hitlerjunge Salomon
Autoren: Sally Perel
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sich die Behörden befanden, war vol er Pas-
    santen. Ich konnte mir kaum einen Weg bahnen. Plötzlich blieb
    mein Blick an einem Mann hängen. Er wirkte völ ig abgezehrt,
    sein Kopf war rasiert, und er trug einen Sträflingsanzug. Ich
    ging näher an ihn heran. Auf seiner Brust hatte er ein farbiges
    Dreieck mit einer Nummer aufgenäht, darunter das Wort Jude .
    Ich schaute ihn an und setzte meinen Weg fort. Nach ein paar
    Schritten blieb ich stehen. Da hatte Jude gestanden. Konnte
    das stimmen? Es gab mir einen Stich: War denn noch ein Jude
    Übriggeblieben? Außer mir kannte ich keinen.
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    Der Funke meiner Herkunft, der nie erloschen, sondern
    nur von einem eisernen Panzer überdeckt war, flammte auf
    und steckte mich in Brand. Ich machte rasch kehrt und holte
    im Laufschritt den Mann ein. Ich baute mich vor ihm auf
    und schaute ihn mit funkelnden Augen an, als wäre er eine
    übersinnliche Erscheinung.
    Mit einer unglaublichen Naivität fragte ich ihn: »Entschul-
    digen Sie, mein Herr, sind Sie wirklich Jude?« Er richtete
    einen freudlosen Blick auf mich. Natürlich konnte er sich
    nicht vorstellen, daß ich ebenfalls Jude war. Ich trug noch
    meine Uniform. Die dunklen Flecke auf dem fadenscheinig
    gewordenen Stoff ließen keinen Zweifel daran, daß hier vor
    kurzem noch die verfluchten und gefährlichen Abzeichen ge-
    steckt hatten.
    Ich hätte ihn schütteln mögen, um ihn von meiner Auf-
    richtigkeit zu überzeugen. Aus dem hintersten Winkel meines
    Gedächtnisses, aus einer dunklen Gehirnzelle holte ich die
    schönsten und feierlichsten Worte, die ich fand, und sagte
    zu ihm: Schma Israel , »Höre Israel«!
    Ich fühlte, daß er mir glaubte. Ich umarmte ihn und flü-
    sterte ihm ins Ohr: »Ich bin auch Jude. Ich heiße Salomon
    Perel.«
    Dies war der entscheidende Augenblick. Ich fühlte plötzlich,
    wie eine Veränderung in mir vorging. Die fremde, aufge-
    zwungene Welt versank im Abgrund. Ich war am Ziel. Ich
    legte meinen Kopf auf seine Schulter … und weinte. Endlich
    flossen die Freudentränen, in denen auch Dank mitfloß, und
    ich schöpfte neue Kraft. Er ließ sich von meinen Gefühlen
    mitreißen, und seine Augen leuchteten ebenso wie die meinen.
    Dieser treue Mann, der mir soviel bedeutete, hieß Manfred
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    Frenkel, ein Braunschweiger Jude. Er kam aus Auschwitz,
    wohin er aus dem Ghetto in Lodz transportiert worden war.
    »Sie waren also auch im Ghetto in Lodz?« fragte ich ihn
    sofort. »Haben Sie dort viel eicht eine Familie Perel getroffen?«
    »Ja«, antwortete er schlicht. Die Antwort genügte mir nicht.
    »Ich habe eine Zeitlang auf einem Güterbahnhof bei Lodz
    gearbeitet. In meinem Arbeitskommando war ein Jude namens
    David Perel.«
    »Aber das ist mein Bruder!« schrie ich auf. Ich fühlte, daß
    dies der erste Meilenstein auf dem Weg war, der mich zu
    meiner Familie führen würde. Aber er kannte keine weiteren
    Einzelheiten. Ich begleitete ihn ein Stückchen. Er war derjenige,
    der mir zum ersten Mal von diesem Schreckensort Auschwitz
    erzählte, von den Gaskammern, den Verbrennungsöfen, den
    Greueln.
    Ich war sprachlos. Vier Jahre lang hatte ich unter ihnen
    gelebt und nichts erfahren. Wie habe ich mir verhehlen können,
    daß sie das, was sie uns im Unterricht über die Vernichtung
    »dieses Volkes von Schmarotzern und Blutsaugern« beibrachten,
    vor Ort auch auf grauenhafte Weise wahrmachen würden?
    Wußten es meine deutschen Kameraden von ihren Eltern,
    sprachen aber nur nicht darüber? Gab es eine stillschweigen-
    de Übereinkunft? Hatten unsere Lehrer Kenntnis von den
    Geschehnissen in Auschwitz? Sprachen sie aus persönlichen
    Motiven nicht im Unterricht darüber? Die theoretische Pro-
    vokation beherrschten sie ja perfekt.
    Während jener Jahre hatte ich oft zahlreiche Arbeiter auf
    den Straßen der Stadt getroffen. Sie trugen Zivilkleidung, und
    aufgesetzte Flicken zeigten ihre Herkunft an und unterschie-
    den sie von der örtlichen Bevölkerung. Ich sah regelmäßig die
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    Wochenschauen im Kino, aber nicht ein einziges Mal waren
    Leute in Sträflingskleidung darin vorgekommen. Man darf
    vermuten, daß die Mehrzahl der Deutschen im Dritten Reich
    das Ausmaß der Vernichtung ahnte, niemals jedoch wurde
    das Thema in einem Gespräch, bei dem ich zugegen war,
    angeschnitten. Während all der Jahre, die ich unter ihnen
    als ihresgleichen verbrachte, habe ich nie das leiseste Gerücht
    oder die geringste Andeutung über den Völkermord gehört.
    Im Rundfunk, in den
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