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Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)

Titel: Ich trug das Meer in Gestalt eines Mädchens (German Edition)
Autoren: Kelle Groom
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bis im Pazifik eine Bombe zu Forschungszwecken gezündet wurde. Er wachte auf und brachte Zehntausende um. Wie eine wandelnde Atombombe. Etwas, das die Leute sehen können. Etwas, das die Wissenschaftler mit einem Sauerstoffzerstörer vernichten können.
    In dem dunklen Zimmer öffne ich die Augen. Die Plastiklamellen in der Tür sind nach außen offen. Straßenlicht schlüpft herein. Es kommt nicht weit. Mein Herz klopft wild, in Panik. Der Ton des Fernsehers ist leise gestellt. Das Bild ist zu verschneit, man kann nichts erkennen.
    Viele Menschen glauben, Godzilla verströme Feueratem, wie ein Drache. Es ist kein Feuer. Es ist der tödliche Atomatem. Er verströmt Radioaktivität. Wenn er das tut, fangen seine Rückenflossen an zu leuchten. Der Kentucky-Typ steht auf und schaltet die Klimaanlage ein. Wir hören ihrem Klappern zu. Klapperklapper, wie Karten in den Speichen eines Fahrrads. Ich stelle mir vor, dass mein Sohn bald alt genug für ein Fahrrad sein wird. Dann fällt mir ein, dass zuerst ein Dreirad kommt. »Warte«, sage ich, »kriegen Jungen nicht zuerst Autos zum Spielen?«
    Auch in dem Eisenbahnrestaurant, wo ich arbeite, geht es mir so – ich weiß nicht, in welchem Alter was dran ist. Bis zur Entbindung, bis zum neunten Monat der Schwangerschaft, bediente ich in einer Cocktailbar, und die Gäste gaben mir Extra-Trinkgeld und sagten: »Damit es ein Junge wird, für mich.« Mein Rücken tat mir weh. Als ich nach seiner Geburt wieder anfing zu arbeiten, wollte ich im Restaurant bedienen. Da verdiente man mehr. Aber ich musste unten anfangen, musste erst mal Tische abräumen. Und die grauen Plastikschalen mit dem schmutzigen Geschirr waren so schwer. Ich blutete, wenn ich sie hochhob. Ich war noch nicht wieder in Form. Ich war zwei Wochen nach der Geburt wieder zur Arbeit gekommen, zu früh. Die Stammgäste stellen mir Fragen. Wollen Fotos sehen. Ich weiß nicht einmal, in welchem Alter ein Kind anfängt zu laufen. Oder feste Nahrung zu essen. Zu sprechen. In der Schlange an der Kasse im Geschäft sah der Mann hinter mir, als ich mein Portemonnaie aufmachte, das Foto von meinem Sohn, das einzige, das ich besaß. Er fragte: »Ist das Ihr kleiner Helfer?« Ich konnte den Gästen nicht erzählen – denen, die mir Extra-Trinkgeld gaben, oder dem Mann hinter mir in der Schlange –, ich konnte ihnen nicht erzählen, dass ich meinen Sohn zu Verwandten gegeben hatte, dass er sehr, sehr krank war und ich nicht für ihn da war. Ich versuchte ihnen zu antworten, aber die Antworten waren nicht richtig. Ich erinnere mich an die Verwirrung auf dem Gesicht eines Gastes.
    Auch der Kentucky-Typ im Motel guckt verwirrt. »Wie bitte? Was für Autos?«
    »Ja. Was hattest du zuerst?« Seine Augenbrauen gehen wieder in die Höhe. Ich suche Hinweise, Informationen über meinen Sohn.
    »Wann?«
    »Als du klein warst.« Er reibt sich mit dem Zeigefinger über die Schläfe. Fährt mit der Hand über meine Wange. Er hat Geduld mit mir.
    »Warum versuchst du nicht zu schlafen?«
    Am hellen Morgen kommt die Sonne ganz ins Zimmer und macht auf dem Teppich Streifen. Der Teppich ist grau, schäbig in der Sonne. Die Augen des Kentucky-Typen sind geschlossen, und ich glaube, er schläft. Ich kriege Ärger. Ich habe nicht zu Hause angerufen. Ich bin zwanzig und wohne noch zu Hause und muss spätestens um zwei Uhr zu Hause sein. Oder ich muss meine Eltern früh am Abend mit einer ziemlich glaubwürdigen Lüge anrufen. Ich finde meine Autoschlüssel zwischen Laken und Bettdecke auf dem Boden. Setze mich neben ihn auf die Bettkante, beuge mich über ihn. Küsse ihn. »Pass gut auf«, sagt er. Ich zucke zurück. »Nein, nein.« Er lacht und zieht mich zu sich heran. »Pass gut auf, nicht meinetwegen. Ich meinte beim Fahren.«
    »Ach so. Klar.«
    Jahre später fragte mich mein Bruder: »Weißt du noch, als du Groupie warst?« Ich saß im Beifahrersitz seines Kleinbusses, seine Kinder auf der Rückbank. Er sagte das, als würde er sagen: »Wer bist du? Wie soll ich mit dir sprechen?« Ich könnte sagen, dass ich das Bild von einer Schwester war, aus schwarzem Papier ausgeschnitten. Dass der Druck von Haut auf meiner Haut bedeutete, ich bin noch hier. Als der Mann aus Kentucky mich berührte, wurde ich lebendig. Ich fühlte mich lebendig. Wie konnte Sophie denken, ich würde das aufgeben? Es war das Einzige, was mich mit der Welt verband.
    Im Frühjahr 1982 , als mein Sohn an Leukämie erkrankt, fragen Freunde unserer Familie, wie wir
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