Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich kenne dich

Ich kenne dich

Titel: Ich kenne dich
Autoren: Jenn Ashworth
Vom Netzwerk:
Mützen, wenn ich tagsüber unter Leute gehe. Heute beachtet mich niemand mehr. Ich habe keine Freunde auf der Arbeit. Wenn ich von Kunden angesprochen werde, tippe ich achselzuckend an meine Ohrenschützer, und nach einer Weile geben sie es auf.
    Dann gab es noch die Befragungen. Sie wollten alles Mögliche wissen. Wie wir unsere Zeit verbrachten, was wir zusammen unternommen hatten, wie Chloe über ihre Zukunft dachte, ihren Freund, ihr Gewicht, ihre Eltern, ihre W ahlfächer für die Abschlussprüfu ng.
    »Hatte sie vielleicht noch andere Freunde, von denen du nichts gewusst hast? Ist sie in Kneipen gegangen?«
    Ich erzählte ihnen von ihrer Silvesterparty. Ich erzählte ihnen von der Tapete und der Parfümerie-Abteilung und der WG und von Woolworth. Ich erzählte ihnen von den gläsernen Aschenbechern und ihrer Postersammlung. Emma erzählte ihnen von ihrem sanften Wesen, ihrer Schüchternheit, die sie überspielte mit extrovertiertem Verhalten, ihrer Entschlossenheit, Klassenbeste zu sein. Sie beschrieb Chloes Tierliebe und ihre Sammlung von Eulen aus Kristallglas, von der ich nichts wusste. Das alles gelangte in die Zeitung. Jedes Mal, wenn Emma ein neues Detail hervorbrachte, lieferte ich eins mehr, bis ihr nichts mehr einfiel, und zum Schluss behielt ich immer noch Chloes Geheimnis in meinem Mund, wie die Knöpfe, die wir uns das eine Mal unter die Zunge steckten, um bei unseren Telefonstreichen vornehm zu klingen.
    Sie fragten uns, ob wir Fotos hatten, auf denen sie irgendeinen normalen Teeniekram machte. Zum Beispiel in eine Haarbürste singen – oder sich für die Disko aufstylen. Oder mit einem vollen Tablett durch einen McDonald’s laufen. Solche Sachen.
    »Wir brauchen etwas, das wir den Medien geben können«, erklärte die Polizistin. Sie hatten bereits ihr Schulporträt, aber sie wollten etwas Persönlicheres, das eine Seite von ihr offenbarte, die nur Mädchen in ihrem Alter gekannt hatten. Ein Foto, auf dem sie herumalberte mit uns, ihren Freundinnen.
    Emma zuckte mit den Schultern, und ich konnte ihnen auch kein Foto geben.
    Ich hätte ihnen erzählen können, wie wir uns stundenlang in ihrem Zimmer eingeschlossen haben. Ganze Nachmittage – reihenweise. Chloe wollte das. Sie schlüpfte dann in ihre Dessous und ihren seidenen Morgenmantel, holte die Polaroidkamera heraus, die Carl ihr geschenkt hatte, und überredete mich, sie zu fotografieren.
    »Wussten Sie«, hätte ich sagen können, »dass ein Polaroidfilm zehn Pfund kostet und dass man nur zehn Bilder damit machen kann? Das macht ein Pfund pro Bild, und ihre Schubladen quollen über von Filmen. Sie kamen von Carl, genau wie die Wäsche und die Kamera, und ich musste sie fotografieren, weil sie mit dem Selbstauslöser nicht klarkam.«
    Also schön, es gibt Fotos. Aufnahmen, die nie ihren Weg zu Carl oder der Polizei gefunden haben. Selbst ich dürfte sie eigentlich nicht haben. Ich habe immer so getan, als wären ein paar Bilder überbelichtet, und sie heimlich eingesteckt. Die Aufnahmen waren zu privat, um sie jemandem zu zeigen. Chloe, auf dem Bett kniend, während ihr Morgenmantel von der Schulter rutscht. Chloe, die die Haare schüttelt und in die Kamera starrt, ohne zu lächeln. Chloe, mit verschmiertem Lippenstift bis zur Wange, während sie mit einer nicht brennenden Zigarette posiert. Chloe auf allen vieren, die Haare im Gesicht und mit leicht geöffnetem Mund. Darauf ist sie undeutlich. Ihr Gesicht ist verschwommen, ihre Haare müssen sich wohl bewegt haben.
    Es gibt noch mehr davon. Chloe von hinten, die Hände an der Hüfte, während sie so tut, als würde sie das Ding, das sie trägt, aufschnüren. Ich erinnere mich an die roten Druckstellen auf ihrer Haut von der billigen, zu engen Korsage – wie sie immer mit den Daumen unter den Saum fuhr und alles zurechtrückte zwischen den Aufnahmen. Ihre Augen sind dunkel und matt und undurchdringlich. Es ist etwas in ihrem Blick, das mir damals hätte auffallen müssen. Sie wirkt nicht unglücklich, sie sieht gelangweilt aus. Ihr Gesicht offenbart, dass sie nicht mit vollem Herzen bei der Sache war. Es kam uns albern vor. Wir wussten nicht, was wir taten.
    Polaroidbilder halten sich nicht besonders gut. Ich möchte sie nicht abnutzen, darum sehe ich sie mir nur selten an. Die Farben lösen sich auf: Ihr Gesicht hat denselben Ton wie ihre Haare, ihre Gliedmaßen sind verwischt, die Verzierungen an der Korsage – ich erinnere mich an durchsichtige Spitze und an Bändchen, die ich hinten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher