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Ich habe sie geliebt

Ich habe sie geliebt

Titel: Ich habe sie geliebt
Autoren: Anna Gavalda
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brachte ich schließlich heraus.
    Sie ging weg und drehte sich noch einmal um, bevor sie aus der Tür trat. Sie starrte mich an und wendete den Kopf von links nach rechts.«
    *
    Mein Schwiegervater war aufgestanden, um ein Insekt auf der Lampe zu töten.
    Er goß den Rest der Flasche in sein Glas.
    »Das war’s jetzt?«
    »Ja.«
    »Du bist ihr nicht nachgelaufen?«
    »Wie im Film?«
    »Ja. In Zeitlupe.«
    »Nein. Ich habe mich ins Bett gelegt.«
    »Ins Bett?«
    »Ja.«
    »Wo denn?«
    »Nun, zu Hause!«
    »Warum?«
    »Ein Schwächeanfall, eine große Müdigkeit. Seit ein paar Monaten schon verfolgte mich die Idee von einem toten Baum. Zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten träumte ich, daß ich einen toten Baum hinaufkletterte und mich in seinen hohlen Stamm fallen ließ. Und der Aufprall war sanft, ganz sanft – als würde ich auf einem Sprungtuch landen. Ich federte noch einmal nach oben, fiel dann tiefer und flog noch einmal hoch. Ununterbrochen mußte ich daran denken. In Sitzungen, bei Tisch, im Auto, beim Einschlafen. Ich kletterte auf meinen Baum und ließ mich jäh fallen.«
    »Eine Depression?«
    »Nicht so ein großes Wort, ich bitte dich, nicht so ein großes Wort. Du weißt ja, wie es bei den Dippels zugeht«, grinste er, »du hast es vorhin schon gesagt. Keine Stimmungsschwankungen, keine Ausscheidungen, keine Galle. Nein, solche Kapriolen konnte ich mir nicht erlauben. Ich bekam also eine Gelbsucht. Das war angemessener. Ich wachte am nächsten Morgen auf, das Weiße im Auge zitronengelb, Ekel und dunkler Urin, und schon war die Sache geritzt. Eine saftige Hepatitis bei einem Mann, der viel reiste, das bedurfte keiner Erklärung.
    Christine übernahm es an diesem Tag, mich auszuziehen.
    Ich konnte kein Glied mehr rühren. Einen ganzen Monat lang hütete ich das Bett, mir war speiübel, und ich war erschöpft. Wenn ich Durst hatte, wartete ich, bis jemand ins Zimmer kam und mir ein Glas reichte, und wenn ich fror, hatte ich nicht die Kraft, die Decke allein hochzuziehen. Ich hatte aufgehört zu reden. Ich erlaubte den anderen nicht, die Fensterläden zu öffnen. Ich war zu einem Greis geworden. Suzannes Güte, meine Ohnmacht, das Geflüster der Kinder, alles strengte mich an. Konnte man denn nicht ein für allemal die Tür zumachen und mich meinem Kummer überlassen? Wäre Mathilde gekommen, wenn … Wäre sie … Ach … Ich war so müde. Und meine Erinnerungen, meine Sehnsüchte und meine Feigheit belasteten mich noch mehr. Die Augen halb geschlossen, kurz vorm Erbrechen, dachte ich über das Debakel nach, das sich mein Leben nannte. Das Glück war dagewesen, und ich hatte es vorbeiziehen lassen, um mir das Dasein nicht zu erschweren. Dabei wäre es so einfach gewesen. Ich hätte bloß die Hand auszustrecken brauchen. Der Rest hätte sich sicher irgendwie geregelt. Alles regelt sich schließlich irgendwie, wenn man verliebt ist, meinst du nicht auch?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Aber ich weiß es. Du kannst mir vertrauen, Chloé. Ich weiß nicht viel, aber das weiß ich. Ich sehe nicht klarer als andere, ich bin nur doppelt so alt wie du. Doppelt so alt, kannst du dir das vorstellen? Das Leben, auch wenn du es verleugnest, auch wenn du es dir nicht eingestehen willst, ist stärker als du. Stärker als alles andere. Menschen sind aus Konzentrationslagern wiedergekehrt und haben Kinder gezeugt. Männer und Frauen, die gefoltert worden waren, die ihre Angehörigen haben sterben sehen, deren Häuser vor ihren Augen niedergebrannt wurden, sind wieder zum Bus gerannt, haben sich über das Wetter unterhalten und ihre Töchter verheiratet. Es ist unglaublich, aber es ist so. Das Leben ist stärker als alles andere. Und außerdem, wer sind wir, daß wir uns so wichtig nehmen? Wir regen uns auf, wir werden laut, na und? Wozu? Und was dann?
    Was ist aus der kleinen Sylvie geworden, für die Paul hier im Zimmer nebenan gestorben ist? Was ist aus ihr geworden?
    Das Feuer ist heruntergebrannt …«
    Er stand auf, um noch ein Holzscheit aufzulegen.
    Und ich, dachte ich, wo ist mein Platz bei alledem?
    Wo ist mein Platz?
    Er kniete vor dem Kamin.
    »Glaubst du mir, Chloé? Glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß das Leben stärker ist als du?«
    »Natürlich.«
    »Vertraust du mir?«
    »Das hängt von der Tagesform ab.«
    »Und heute?«
    »Ja.«
    »Dann tätest du gut daran, dich jetzt schlafen zu legen.«
    »Hast du sie nie wiedergesehen? Hast du nie versucht, etwas über sie in Erfahrung zu bringen? Hast du sie
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