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Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)

Titel: Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Tahereh H. Mafi
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antwortet. »Ganz ehrlich? Ich bin mir nicht sicher, ob es hier drin besser ist oder draußen.«
    Er schaut zu der Glasscheibe, die uns von der Welt trennt. Ich tue es ihm gleich. Warte darauf, dass seine Lippen sich öffnen, damit ich ihm weiter zuhören kann. Und dann muss ich mich konzentrieren, weil seine Worte in meinem Kopf herumwirbeln, meine Sinne betäuben, mich benebeln.
    Wusstest du, dass es eine internationale Bewegung gibt?, fragt Adam.
    Nein, antworte ich. Ich erzähle ihm nicht, dass ich vor 3 Jahren von zu Hause verschleppt wurde. Genau 7 Jahre, nachdem das Reestablishment mit seiner Propaganda begann, und 4 Monate nach der Machtübernahme. Ich erzähle nicht, wie wenig ich über die neue Welt weiß.
    Adam berichtet, das Reestablishment habe Einfluss auf alle Länder und warte nur auf den Moment, sämtliche politischen Machtpositionen mit seinen eigenen Leuten zu besetzen. Er sagt, die verbliebenen bewohnbaren Flächen der Erde seien in 3333 Sektoren unterteilt worden, beherrscht von jeweils unterschiedlichen Machthabern.
    Wusstest du, dass sie uns belogen haben?, fragt er.
    Wusstest du, dass sie behauptet haben, jemand müsste die Macht übernehmen, die Gesellschaft retten, den Frieden wiederherstellen? Und das sei nur möglich, indem man alle Systemgegner tötet?
    Wusstest du das?, fragt mich Adam.
    Und da nicke ich. Sage ja.
    Denn daran erinnere ich mich: an die Wut. Die Aufstände. Die Krawalle.
    Meine Augen schließen sich, um die schlimmen Erinnerungen auszublenden, doch das Gegenteil tritt ein. Proteste. Demonstrationen. Schreie. Ich sehe Frauen und Kinder verhungern, zerstörte Häuser, verbrannte Landschaften, deren einzige Ernte verfaulende Leichen sind. Tot tot tot und rot, weinrot und rotbraun und das dunkelste Lippenstiftrot meiner Mutter auf der Erde verschmiert.
    So vieles alles alles tot.
    Jetzt kämpft das Reestablishment darum, die Macht zu behalten, erzählt Adam. Kämpft gegen die Rebellen, die sich dem Regime widersetzen. Versucht, sich als neue Regierungsform international durchzusetzen.
    Ich denke an die Menschen aus meinem alten Leben. Frage mich, was aus ihnen geworden ist. Aus ihren Häusern, Eltern, Kindern. Frage mich, wie viele von ihnen schon unter der Erde liegen.
    Wie viele von ihnen getötet wurden.
    »Sie zerstören alles«, sagt Adam ernst, und seine Stimme zerreißt die Stille. »Alle Bücher, alle Kunstwerke, jede Spur menschlicher Geschichte. Sie sagen, nur so könne man alles verbessern. Einen Neuanfang machen. Sie sagen, wir dürfen die Fehler der vorherigen Generationen nicht wiederholen.«
    Es klopft
    zweimal
    an der Tür, und wir springen beide auf, schlagartig wieder in der tristen Welt unserer Zelle.
    Adam zieht eine Augenbraue hoch. »Frühstück?«
    »Drei Minuten warten«, erinnere ich ihn. Es gelingt uns so gut, unseren Hunger zu verbergen. Bis das Klopfen an der Tür unserer Würde den Todesstoß versetzt.
    Die lassen uns vorsätzlich hungern.
    »Ja.« Ein Lächeln spielt um seine Lippen. »Ich will mich ja nicht verbrennen.« Die Luft gerät in Bewegung, als er auf die Tür zutritt.
    Ich bin eine Statue.
    »Ich verstehe immer noch nicht«, sagt er, kaum hörbar. »Wieso bist du hier?«
    »Und wieso stellst du so viele Fragen?«
    Er ist nur 20 Zentimeter entfernt von mir, und ich bin kurz davor, in Brand zu geraten. »Deine Augen sind so tief.« Er legt den Kopf schief. »So ruhig. Ich möchte wissen, was du denkst.«
    »Das solltest du lassen. Du kennst mich nicht.«
    Er lacht, und in seinen Augen flackert Licht. »Ich kenne dich nicht.«
    »Nein.«
    Er schüttelt den Kopf. Setzt sich auf sein Bett. »Na klar. Natürlich nicht.«
    »Wie?«
    »Du hast recht.« Seine Stimme klingt rau. »Vielleicht bin ich verrückt.«
    Ich trete zwei Schritte zurück. »Schon möglich.«
    Er lächelt wieder, und ich würde ihn am liebsten fotografieren. Den Rest meines Lebens auf seine geschwungenen Lippen starren. »Nein, bin ich nicht«, sagt er.
    »Aber du sagst mir nicht, warum du hier bist«, fordere ich ihn heraus.
    »Du auch nicht.«
    Ich sinke auf die Knie und ziehe das Tablett durch den Schlitz. In zwei Blechnäpfen dampft etwas Undefinierbares. Adam setzt sich mir gegenüber auf den Boden.
    »Frühstück«, sage ich und schiebe ihm seinen Napf hin.

6
    1 Wort, 2 Lippen, 3 4 5 Finger bilden eine Faust.
    1 Ecke, 2 Eltern, 3 4 5 Gründe, sich zu verstecken.
    1 Kind, 2 Augen, 3 4 17 Jahre Angst.
    1 zerbrochener Besenstiel, 2 verzerrte Gesichter, wütendes Raunen,
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