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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin
Autoren: Anne Butterfield
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anderen Schalter, um der Kette aus ihrer misslichen Lage und zurück in den zweiten Gang zu verhelfen. Meine Oberschenkel versagen den Dienst, und ich steige ab. Was soll ich jetzt bloß tun?
    Ich rolle die Straße wieder herunter bis zu einer grasbewachsenen Ausweichstelle an der nächsten Kurve, werfe Pack- und Satteltaschen zu Boden und stelle das Rad auf den Kopf. Warum bloß habe ich es heute Morgen nicht hingekriegt, mit Mike und Ken aufzubrechen? Sie wüssten bestimmt, was jetzt zu tun ist. Ich nicht. Ich lege mich ins Gras und starre auf der Suche nach einer Lösung in den Himmel. Das Multi-Tool! Wird es mich aus meiner misslichen Lage retten können? Ich fummle in der Satteltasche herum, finde das hübsche Werkzeug und entfalte all seine Einzelteile. Es enthält nichts weiter als eine Reihe Schraubenschlüssel. Das ist alles, abgesehen von dem überflüssigen Utensil zum Reparieren gebrochener Kettenglieder. Dafür habe ich zweiundzwanzig Pfund bezahlt? Was bringt es mir? Ich sitze im Schneidersitz im Gras und stütze den Kopf in die Hände. Fast breche ich in Tränen aus. Wo ist der Radler aus Den Haag? Oder irgendwer sonst? Das letzte Mal habe ich mich so verloren gefühlt, als mir mit fünf Jahren einmal all meine Smarties aus dem Röhrchen gefallen waren und mir einige der Eltern am Schultor mitleidig in mein rotes, verheultes Gesicht sahen.
    »Ach, du Ärmste«, hatte eine Mutter gesagt.
    Meine eigene Mutter war nicht da gewesen. Ebenso wenig wie jetzt.
    »Herrgott noch mal! Jetzt werde mal erwachsen, reiß dich zusammen, es könnte alles viel schlimmer sein!«, sage ich zu mir selbst, während ich die nächsten Schritte überdenke.
    Es könnte tatsächlich schlimmer sein. Es könnte Winter sein. Es könnte regnen. Ich könnte an Unterkühlung sterben, während ich hier sitze, aber es herrscht strahlender Sonnenschein, und es besteht immer noch die Chance, dass ich mich aus diesem Schlamassel befreien kann. Bloß wie? Ich kehre zu den Grundlagen zurück und bewege mit einem Ruck das Dingsbums nach vorn, dessen Namen ich mir noch nie merken konnte – das Teil in der Nähe des Hinterrads, das die Kette bewegt. Während ich das Dingsbums festhalte, nehme ich die Kette von den Ritzeln des zweiten Ganges und bugsiere sie mit den Fingern behutsam Glied für Glied auf die Ritzel des ersten Ganges. Ich habe manuell den ersten Gang eingelegt. Mit öligen, verschwitzten Händen, an denen gemähtes Gras klebt, drehe ich das Fahrrad wieder um und befestige die Packtaschen. Wenn das nicht funktioniert, so schwöre ich mir, dann werfe ich das Rad in den Abgrund und gehe zu Fuß über den Col nach Roncesvalles. Natürlich erst, nachdem ich meine Listen konsultiert und die wichtigsten Gepäckteile in die Satteltasche umgepackt habe.
    Die Straße ist genauso leer wie schon den ganzen Tag – kein Verkehr, keine Pilger, keine Hilfe. Mein Herz schlägt bis zum Hals, als ich versuchsweise das rechte Pedal herunterdrücke, meinen linken Fuß von der Straße hebe, das linke Pedal herunterdrücke, das rechte Pedal, das linke Pedal, das rechte, das linke. Oh, ich kann es kaum glauben! Ich radle bergauf Richtung Col, den ich immer noch nicht sehen kann. Ich bin überglücklich über meinen Erfolg. In Hochstimmung! Das ist es doch, worum es im Leben geht: Problemen ins Auge sehen und sie lösen, nicht aufgeben, nicht in Selbstmitleid versinken, daran denken, dass alles schlimmer sein könnte. Erfolg ist der Lohn der Beharrlichkeit. Ein kalter Wind und schnell ziehende dunkle Wolken kündigen ein Unwetter an. Unmittelbar bevor es zu regnen beginnt, halte ich an, um meinen Kaschmirpullover und die gelbe Jacke anzuziehen. Drei Radfahrer gleiten wie mühelos vorbei, die ersten Menschen, die ich seit der »Kinderwagen-Pilgerin« zu Gesicht bekomme. Ich blicke ihnen nach, und als sie etwa hundert Meter weiter über die Bergkuppe verschwinden, merke ich, dass das der Gipfel ist. Ich bin fast da! Als ich das Fahrrad »reparierte«, hatte ich keine Ahnung, dass ich nur zwei Kilometer vom höchsten Punkt entfernt war. Ich hätte das Fahrrad, wenn nötig, doch ins Ziel schieben können. Aber es war nicht nötig gewesen. Ich werde radeln, den ganzen Weg über den Col d’Ibañeta. Jawohl!
    Der Wind tut sein Bestes, um mich auszubremsen. Er weht mir den kalten Regen ins Gesicht und an die nackten Beine und fegt über mich hinweg, stößt mich hin und her und versucht, mich in den Straßengraben zu schleudern. Dann ändert er die Richtung
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