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Honigtot (German Edition)

Honigtot (German Edition)

Titel: Honigtot (German Edition)
Autoren: Hanni Münzer
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sie heraus und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die entstandene Öffnung.
    Auf den ersten Blick sah es nach einer leeren Nische aus. Dann aber blühte ihm eine Überraschung: Weit und breit waren keine Heizungsrohre zu sehen, sondern Bücher, Bücher und nichts als Bücher. Er glaubte zunächst, an Halluzinationen zu leiden, ausgelöst dadurch, dass er sich in einem Raum voller Bücher befand und die letzte Stunde nichts anderes durch die Gegend geschleppt hatte. Die Nische war ungefähr bis zur Hälfte damit angefüllt. Merkwürdig fand er das schon, dass sie sich nicht in den offenen Regalen befanden, sondern dahinter versteckt. Um sich keinerlei Ärger einzuhandeln, pendelte er erneut zum Hausapparat und drückte die Nummer 2.
    Es dauerte ungefähr drei Minuten bis die Haushälterin, etwas außer Atem erschien und die Fugga´sche Entdeckung in Augenschein nahm. Frau Gabler wurde bei dem Anblick blass wie Hefeteig. Sie persönlich hatte es zwar immer für ein Gerücht gehalten, aber scheinbar hatten die Handwerker genau das gefunden, wonach der Hausherr seit Jahrzehnten gesucht hatte. Im gleichen Moment kehrte der junge Fugga, verstaubt und mit Spinnweben in den Haaren zurück.
    Sein Anblick ließ Frau Gabler missbilligend die Miene verziehen. „Bitte die Herren, bleiben Sie hier und rühren Sie nichts an. Ich sehe nach, ob Frau von Stetten schon auf ist“, forderte sie Vater und Sohn energisch auf. Dann eilte sie, so gut sie es auf ihren von Krampfadern gepeinigten Beinen vermochte, die Freitreppe nach oben, durchquerte den langen Korridor, dessen dicker Teppich ihre Schritte verschluckte und klopfte an die letzte Tür des Ganges.
    „Kommen Sie herein, Alma“, antwortete eine leise kultivierte Stimme.
    Frau Gabler hatte die Räume ihrer Arbeitgeberin oft genug betreten, trotzdem nahm sie auch heute die Anmut des Raumes gefangen. Es war, als würde man in die Märchenwelt aus Tausendundeine Nacht eintauchen. Der Vater der Hausherrin, Senator Hohenkamp, war früh verwitwet und Evelyn war sein einziges Kind geblieben. Der Senator war lange Jahre als Botschafter in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens tätig gewesen. Wie die meisten Männer seiner Generation konnte er nicht viel mit kleinen Mädchen anfangen und überließ die Erziehung seiner Tochter den diversen Hauslehrern, aber vor allem dem arabischen Kindermädchen Fatimah. Fatimah konnte zwar kaum lesen und noch weniger schreiben, dafür quoll sie von mystischen Märchen über. Für ein von Natur aus schwärmerisch veranlagtes Kind waren die Mysterien des Orients unwiderstehlich, was sich in Evelyn von Stettens persönlichen Räumen widerspiegelte. Prunkstück des Zimmers war ein Baldachinbett. Außer dem Bett und dem Frisiertisch enthielt der Raum keine Möbel, bis auf zwei Sandelholztischchen, auf denen jeweils eine Venus-Orchidee in einem Muranogefäß blühte. Die Wände waren mit Trompe-l’oeil-Motiven bemalt worden, die die perfekte Illusion eines Harems schufen. Der orientalische Stil neigt meist zu schwülstiger Übertreibung und war nicht jedermanns Sache - vor allen Dingen nicht die ihres Gatten - doch Evelyn von Stetten hatte es verstanden, den Zauber des Orients einzufangen, ohne den Raum zu überladen.
    Die Baronin war bereits auf und trug einen ihrer antiken Kaftane. Sie saß vor ihrem Frisiertisch und bürstete sich die blonden Haare, die ihr in weichen Wellen bis auf die Schultern fielen.
    „Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber es ist wegen der Handwerker“, erklärte Frau Gabler nähertretend.
    „Ja, ich habe die Türglocke gehört. Haben sie in der Bibliothek schon angefangen?“
    „Darum bin ich hier. Die Herren sind da auf etwas gestoßen. Die Sache ist die, sie haben eine Menge alter Bücher gefunden.“
    „Aber, Alma. Was sollen die Herren in einer mehr als zweihundert Jahre alten Bibliothek denn anderes finden als Bücher?“, antwortete Frau von Stetten sanft, bemüht, sich keinerlei Ungeduld anmerken zu lassen. Frau Gabler diente der Familie von Stetten bereits seit mehr als fünfunddreißig Jahren treu und ergeben. Dass sie selbst in Kürze sechzig Jahre werden würde, ignorierte die Baronin gerne. Evelyn von Stetten hatte sich ihre Figur mit eiserner Disziplin bewahrt. Auch ihr Spiegelbild strafte ihr Alter Lügen, warf es doch das Bild einer gepflegten Frau mit feinen Gesichtszügen zurück. Der sensible Mund und der seit dem Unfalltod ihres ältesten Sohnes Alexander leicht melancholische Ausdruck in ihren
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