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Honigmilch

Honigmilch

Titel: Honigmilch
Autoren: Jutta Mehler
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führte. Sie drückte die Klinke hinunter, riss die Brettertür auf und trat in einen winzigen Flur. Links erzitterten ein Schrubber und ein Reiserbesen in der plötzlichen Zugluft, als wollten sie Fanni grüßen.
    Direkt vor sich sah Fanni eine zweite Tür und öffnete sie.
    Zwei Bergwächter saßen am Tisch, volle Biergläser vor sich. Der eine schnitt soeben ein Stück Geräuchertes auf, der andere säbelte dicke Scheiben von einem Brotlaib.
    »Komm nur rein«, forderten sie Fanni auf, die in der offenen Tür zum Stehen gekommen war. »Magst mitessen? Warum schnaufst du denn so?«
    »Unfall«, keuchte Fanni, »in der Telefonschneise.«
    »Was sagst du?«, fragte der eine.
    »Unfall!«, schrie Fanni.
    Da ließen die beiden seufzend ihre Halben, das Geselchte und das Bauernbrot im Stich, zogen sich rote Anoraks über, auf deren Rückseite ein weißes Edelweiß leuchtete, und folgten Fanni.
    Sprudel kniete nicht mehr allein unter dem Felsen. Ein Nationalparkranger hockte neben ihm und sprach in sein Handy.
    Als Fanni mit Rudi und Sepp, wie sich die Bergwächter ihr inzwischen vorgestellt hatten, herankam, erhob sich Sprudel, ging ihnen entgegen und bat sie, hinter der Planke zu bleiben.
    »Sie hat uns hergeholt!«, rief Sepp und deutete anklagend auf Fanni. »Wir sind die Bergrettung.«
    »Hier gibt es niemanden mehr zu retten«, entgegnete Sprudel. »Der Ranger hat bereits die Polizei alarmiert.«
    »Tot?«, fragte Sepp.
    Sprudel nickte.
    »Auf dem Felsen herumgeturnt, abgerutscht, Genick gebrochen«, diagnostizierte Rudi ohne den geringsten Sichtkontakt zur Leiche.
    Sepp machte ein paar Schritte am Geländer entlang und reckte den Hals.
    »Weißt, wer das ist?«, fragte er Rudi.
    Der sah ihn erwartungsvoll an.
    »Die Annabel ist das«, verkündete Sepp, »schau hin, erkennst sie nicht?«
    Rudi rückte nun seinerseits zu der Stelle vor, von der aus man einen Blick auf das weiße Gesicht werfen konnte, und beugte sich über die Planke.
    »Tatz und Fell von der Katz, das ist sie!«, sagte er. »Und überall Blutspritzer.«
    Blut?
    Fanni wollte die Verunglückte nicht noch einmal ansehen müssen und die Blutspritzer, die sie zuvor für ein abstraktes Muster auf der Bluse gehalten hatte, schon gar nicht. Was also trieb sie auf den Baumstumpf, von dem aus sie einen freien Blick auf die tote junge Frau hatte?
    Misstrauen? Skepsis? Der Zwang, sich selbst ein Bild zu machen?
    Die Kleckse auf der Bluse – eigentlich mehr braun als rot – konnten durchaus Blutspuren sein. Und ja, sie setzten sich in dem weißen Gesicht fort – kleiner, verwaschener, weniger deutlich auf der milchigen Haut.
    Fanni fielen Bruchstücke aus dem Märchen von Schneewittchen ein: »… weiß wie Milch, rot wie Blut …«
    Ja, Annabel war schön wie Schneewittchen. Sie hätte in eine Werbebroschüre gepasst. Als Reklame für Sonnenschutzmittel, für Hautlotion, für Tönungsshampoo. Ihr schwarzes Haar glänzte seidig. Dort, wo ein Sonnenstrahl darauf fiel, schimmerte es dunkelrot.
    Fanni wandte sich ab.
    Als sie von dem Baumstumpf herunterstieg, sah sie, dass sich um Rudi und Sepp ein Grüppchen Menschen angesammelt hatte, und erst jetzt drangen die Stimmen in ihr Bewusstsein.
    »Freilich ist das die Annabel«, rief Sepp soeben, »die Annabel Scheichenzuber ist das.«
    Sein Bayrisch machte ein »Anerbeel« daraus.
    Fanni seufzte. Sie hatte nie begriffen, was manch eingefleischten Bayern dazu veranlasste, seinen Kindern derart unbayrische Vornamen zu geben. Zum einen, fand Fanni, passte nun mal eine Anna oder Lisa, ein Toni oder Franz besser zu Scheichenzuber, Steigelmeier oder Brezendorfer als eine Jaqueline, Nicole oder ein Pierre. Zum anderen wurden diese unkonventionellen Vornamen besonders in Niederbayern ausnahmslos verhunzt. Leni hatte in ihrer Klasse eine Tschaklinn gehabt, Vera eine Nikohl.
    »Weiß das der Max schon, dass seine Aushilfsbedienung tot in der Telefonschneise liegt?«, hörte Fanni eine Stimme fragen.
    »Wird es früh genug erfahren«, antwortete eine andere.
    »Wo kommt das Mädel denn her?«, meldete sich eine dritte. »Die Familie muss doch …«
    »Die Annabel wohnt in Zwiesel«, verkündete Rudi, »am Finkenschlag. Ihr Vater ist Fahrkartenverkäufer bei der Bahn.«
    »Die Annabel geht auf die Glasfachschule«, fügte Sepp hinzu und verbesserte sich dann leise: »Ist auf die Glasfachschule gegangen.«
    »Hat nicht vorhin einer gesagt, das Mädel bedient in der Schutzhütte?«, warf eine der Stimmen ein.
    »Bloß am
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