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Höhenangst

Titel: Höhenangst
Autoren: Nicci French
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dem Whisky und dem Zeitungsausschnitt ins Wohnzimmer. Ich schenkte uns ein. Als gute Nordamerikanerin verschwand Deborah in Richtung Küche, um Eis für ihren Drink zu holen. Ich warf einen Blick auf den Zeitungsartikel.
    Über dem Text war ein Foto von Adam abgedruckt, das ich noch nie gesehen hatte. Sonnenverbrannt und ohne Kopfbedeckung stand er irgendwo auf einem Berg und lächelte in die Kamera. Wie selten ich ihn lächelnd oder fröhlich gesehen hatte. Vor meinem geistigen Auge machte er immer ein ernstes Gesicht. Hinter ihm verlief eine Bergkette, die an Meereswellen in einer japanischen Radierung erinnerte, eingefangen in einem Moment vollkommener Ruhe. Für mich war immer schwer zu verstehen gewesen, wieso die Berggipfel auf fast allen Fotos so ruhig und klar aussahen. Nach allem, was mir die anderen erzählt hatten – Deborah, Greg, Klaus und natürlich Adam –, setzte sich die wahre Gipfelerfahrung aus all den Dingen zusammen, die sich auf einem Foto nicht festhalten ließen: der unglaublichen Kälte, dem verzweifelten Ringen nach Luft, dem ohrenbetäubenden Pfeifen des Windes, der einen hochzureißen und wegzuwehen drohte, der Schwerfälligkeit von Geist und Körper. Hinzu kam das Gefühl, sich in einer feindlichen Umgebung aufzuhalten, einer unmenschlichen Welt, in die man in der Hoffnung hinaufstieg, den Elementen ebenso zu trotzen wie dem eigenen physischen und psychischen Verfall. Ich starrte auf Adams Gesicht und fragte mich, wen er wohl anlächelte. In der Küche hörte ich Eiswürfel klirren.
    Als ich Klaus’ Text überflog, zuckte ich erst mal zusammen. Einerseits hatte er mit diesem Artikel eine persönliche Gedenkschrift für seinen Freund verfaßt, andererseits aber auch versucht, den Pflichten eines Nachrufschreibers gerecht zu werden. Nachdem ich mir einen groben Überblick verschafft hatte, las ich den Text Wort für Wort:

    Der Bergsteiger Adam Tallis, der kürzlich durch eigene Hand starb, war durch die Heldentaten berühmt geworden, die er letztes Jahr während des katastrophalen Unwetters auf dem Chungawat vollbrachte. Er hatte diesen Ruhm nicht gewollt und fühlte sich im Rampenlicht nicht sehr wohl – bewies aber wie immer Stil. Adam stammte aus einer Militärfamilie, gegen die er früh rebellierte (sein Vater hatte 1944 an der Landung in der Normandie teilgenommen). Adam kam 1964 auf die Welt und ging in Eton zur Schule, war dort aber nicht sehr glücklich.
    Damals wie auch später war er nicht bereit, sich irgendeiner Form von Autorität oder Institution zu unterwerfen, die er für unwürdig hielt. Mit Sechzehn ging er endgültig von der Schule ab und brach allein nach Europa auf.

    Klaus lieferte daraufhin einen genauen Bericht über Adams frühe Bergsteigerkarriere und die Ereignisse auf dem Chungawat, wie er sie schon in seinem Buch beschrieben hatte. Dabei berücksichtigte er die Korrektur durch das Guy -Magazin. Nun war es Tomas Benn, der auf ergreifende Weise um Hilfe rief, bevor er ins Koma fiel.
    Das führte zum Höhepunkt von Klaus’ Artikel: Indem Benn – wenn auch zu spät – um Hilfe bat, sprach er sich für eine Form der Menschlichkeit aus, die Adam Tallis verkörperte. Vor allem in den letzten Jahren hat es Leute gegeben, die behaupteten, die normale Moral habe keine Geltung mehr, wenn wir uns den Gipfeln der höchsten Berge näherten. Dieser brutalen Sehweise wurde vielleicht auch durch den neuen Trend Vorschub geleistet, kommerzielle Expeditionen zu organisieren, bei denen sich der Leiter gegenüber dem zahlenden Kunden – häufig unqualifizierten, aber reichen Abenteurern – verpflichtet, ihn sicher und ohne Risiko für Leib und Leben auf den Gipfel zu führen. Adam selbst hatte deutlich geäußert, wie kritisch er solchen »Ochsenauftrieben« gegenüberstand.
    Trotzdem – und hier spreche ich als ein Mann, dessen Leben während jenes schrecklichen Unwetters von Adam Tallis gerettet worden ist – verhielt er sich ganz im Sinn der besten Traditionen bergsteigerischer Kameradschaft.
    Es sah damals so aus, als würden mittlerweile sogar in jener exklusiven Welt oberhalb von achttausend Metern die Gesetze des Marktes gelten. Aber jemand hatte vergessen, den Berggott des Chungawat darüber zu informieren. Adam Tallis demonstrierte uns, daß es in extremis tiefere Leidenschaften und grundlegendere Werte gibt. Nach seiner Rückkehr vom Chungawat war Adam alles andere als untätig. Seit jeher ein Mann der schnellen Entschlüsse, heiratete er eine schöne und
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