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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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direkt, wie es mir möglich war:
    Was hatte das Leid, das sie in den vergangenen acht Jahren durch ihren Ehemann erfahren hatte – und das sie auch jetzt noch, hier in ihrem Sterbebett, erfuhr –, was hatte das alles mit ihrer Suche nach Gott zu tun?
    Ich hätte es mir denken können, dass sie mit einer weiteren Anekdote aus dem Leben eines Derwisch antwortete.
    »Als Chishti im Sterben lag«, begann sie, »war sein ganzer Körper ein einziger Schmerz. Seine Anhänger verstanden nicht, wie jemandem, den Allah so sehr liebt, solche Schmerzen aufgebürdet wurden … Weißt du, was er ihnen sagte, als sie ihn fragten, warum Allah ihn so leiden ließ?«
    »Was?«
    »›So gefällt es dem Göttlichen, sich durch mich auszudrücken.‹« Ihre Augen glänzten, als sie mir dann mitteilte, was – wie ich später verstehen sollte – wohl die Quintessenz ihres Lebens war. »Was ich damit meine: Alles, alles , ist Ausdruck von Allahs Willen. Alles ist zu seiner Ehre. Auch das Leid …« Sie hielt inne. »Das ist die eigentliche Wahrheit des Lebens.«

EPILOG: 1995
    Die Geschichte endet in Boston.
    Ich war mit Rachel schließlich während der gesamten restlichen Studienzeit zusammen, und nach dem College zogen wir nach Boston in eine Wohnung am Kenmore Square. Unsere wunderbare und wegen unserer Religionszugehörigkeiten schwierige Liebesbeziehung ist eine andere Geschichte, zuvor aber gibt es noch einiges zu sagen, um diese hier abzuschließen: In Rachels Armen – und durch ihre Liebe – entdeckte ich letztlich, dass ich nicht nur ein Mann, sondern auch Amerikaner bin.
    Sie arbeitete in einem Krankenhaus in Brookline; ich war als Praktikant für den Atlantic in der North Washington Street tätig. Am Samstag fuhr ich mit der grünen U-Bahn-Linie zur roten Linie und mit der roten zum Harvard Square, wo ich es mir zur Gewohnheit gemacht hatte, im Algiers Coffee House schreibend den Nachmittag und Abend zu verbringen. Das Lokal, seine orientalische Holzverkleidung, die verspiegelte Kuppel, der Minztee und die arabische Musik, das alles versetzte mich in eine Stimmung, die mich dazu inspirierte, Worte zu Papier zu bringen. Im ersten Stock des Algiers schrieb ich meine erste Kurzgeschichte. Und dort im ersten Stock lief ich auch Nathan über den Weg.
    Ich saß in einem Eckabteil, als ein kleiner, auffälliger Mann – einen Kaffee in der einen, einen Teller Baklava in der anderen Hand – die Treppe heraufkam. Ich erkannte ihn sofort, obwohl es mehr als zehn Jahre her war, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Er hatte sich kaum verändert, auch wenn er älter wirkte und seine früher gelockten Haare kurz geschnitten und großzügig grau meliert waren. Er stand auf der Treppe und sah sich im voll besetzten Raum nach einem freien Platz um, dann bemerkte er, dass ich ihn unumwunden ansah.
    »Dr. Wolfsohn?«, fragte ich und stand auf. Er zog die Brauen hoch und kniff die Augen zusammen, ein Ausdruck des Erkennens huschte über sein Gesicht. »Ich bin Hayat Shah«, sagte ich.
    »Hayat … mein Gott«, sagte er erstaunt, während er sich näherte. »Wie bist du gewachsen. Du bist jetzt ein Mann.«
    »Nicht ganz«, scherzte ich. »Aber es ist lange her, dass wir uns gesehen haben.«
    »Was machst du hier?«, fragte er.
    »Ich bin oft am Wochenende hier. Ich bin Praktikant beim Atlantic .«
    »Wie schön«, sagte er und strahlte übers ganze Gesicht. Wieder sah er mich aufmerksam an und schüttelte ungläubig den Kopf. Ich hatte weiche Knie, mein Herz raste. Er freute sich so sehr über unser Wiedersehen, dass es mich völlig entwaffnete. Und zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass die Entschuldigung, die ich all die Jahre Mina gegenüber hatte anbringen wollen, eigentlich für ihn bestimmt gewesen war.
    »Hören Sie, Dr. Wolfsohn …«, begann ich zögerlich.
    »Nenn mich Nathan, Hayat.«
    »Richtig, Nathan. Wollen Sie … äh … willst du dich kurz zu mir setzen?«
    »Gern«, sagte er und stellte seine Tasse und seinen Teller mit den Süßigkeiten auf dem Tisch ab. Er zog sich einen Stuhl zurecht und nahm Platz. Ich setzte mich ebenfalls.
    »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll …«
    »Schieß einfach los, Hayat«, sagte Nathan. Er sah mich direkt an; in seinem Blick lag etwas Ernstes, fast Strenges.
    »Es hat sich nie die Möglichkeit zu einem Gespräch ergeben, nachdem es passiert ist … Ich meine, ich war noch ziemlich jung und …« Ich brach ab. Irgendwie kamen mir meine Worte falsch vor. Ich sah zu ihm. Er
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